Foto: Faust (Pavel Cernoch) und seine Kamera in der Inszenierung von Andrea Moses. © A.T. Schaefer
Text:Detlef Brandenburg, am 31. Oktober 2011
Mit einem programmatischen Appell an die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers hat Andrea Moses die erste Saison des neuen Leitungsteams an der Staatsoper Stuttgart eröffnet. Die neue Chefregisseurin spaltete das Publikum mit ihrer Inszenierung von Hector Berlioz’ _Dramatischer Legende_ „La Damnation de Faust“ in Begeisterte und Buhrufer und bescherte dem neuen Intendanten Jossi Wieler, seinem Chefdramaturgen Sergio Morabito und der Operndirektorin Eva Kleinitz (vergl. auch Interview in _Die Deutsche Bühne 9/2011_) einen ebenso beherzten wie umstrittenen Einstand. Moses interpretiert den Titelhelden als Künstler, der an der künstlerischen Wahrheit verzweifelt, der sich von Mephisto zum Zynismus medialer Surrogate verführen lässt und damit dem Aufstieg radikaler gesellschaftlicher Kräfte Vorschub leistet. Am Ende wird dieser Künstler-Faust, eingeschlossen in einen kugelrunden übermannsgroßen Plastikkokon, buchstäblich zum Spielball der neuen Machthaber, während Marguerites Erlösung als verlogene katholische Messe mit Mephisto als weißem Bischof zelebriert wird, unter hämischer Mitwirkung schwarz uniformierter Neofaschisten, denen die Ministranten die Stiefel wichsen. Ein böses Bild.
Und ein riskantes Konzept. Denn Moses überformt damit das Werk mit einer Meta-Erzählung, deren Sinn sich nicht nur im Schlussbild weit vom sprachlichen und musikalischen Text entfernt. Die Bilder, die sie mit ihrem Ausstatter Christian Wiehle dafür gefunden hat, sind hochkomplex. Aber sie haben nicht durchweg die zwingende Evidenz, die nötig wäre, um ihren Sinn kraftvoll zu behaupten. Andererseits ist der Maßstab der „Werkgerechtigkeit“ natürlich immer problematisch. Und er ist in Bezug auf Berlioz’ „Damnation“ sogar hochproblematisch, weil das Libretto von Berlioz und Almire Gandonnière zwar zweifelsfrei von der Goethe-Verehrung beider Autoren zeugt, sonst aber eher bestrebt ist, Berlioz dankbare Kompositionsanlässe zur Verfügung zu stellen, statt eine kohärente Geschichte oder Bedeutung zu transportieren. Dieser „Faust“ hat deshalb die Regisseure in den letzten Jahren immer wieder zur schöpferischen Travestie herausgefordert – wenn auch sicher nicht zu einem solchen politischen Musiktheater, wie es Moses jetzt vorlegt.
Was also ist zu sehen? Zu Anfang sehen wir im nebligen Dämmer der sonst leeren Bühne einen jungen Mann in Jeans und Parka vor einem ärmlichen Wohnwagen, und im Zuschauerraum geht leuchtend orange die Sonne auf. Der schlanke Jüngling greift zur Kamera – aber ach: Sonnenaufgänge, Millionen von Urlaubsfotos beweisen es – Sonnenaufgänge sind als künstlerisches Motiv heillos kitschig. Aber schon kommt Volk, folkloristisch fremdartig gekleidet, es könnten Roma sein, und da wir in der Puszta sind, senkt sich hinten die ungarische Fahne. Eine Hochzeit wird gefeiert, der Youngster-Faust-Kamerakünstler hält das Treiben fest, aber wen wundert’s: Das kitschige Hochzeitsweiß, die stolz präsentierten Segnungen des Kapitalismus in Form neureicher Brautgeschenke, die kokett mit dem Kameramann flirtenden reiferen Damen – auch solche Motive schaffen ihm die künstlerische Erfüllung nicht. Und als dann Neofaschisten in schwarzer Montur (und zum berühmten Rákóczy-Marsch) Aufstellung beziehen, als sie das bunte Hochzeitsvolk blutig niederknüppeln, da hält Faust zwar mit der Kamera wacker drauf, doch am Ende verzweifelt er völlig. Die Natur ist Kitsch, das Volk ist ordinär, die politische Wirklichkeit brutal – vor einer solchen Welt flieht dieser schmächtige Künstlerboy in die Studierstube. Er sucht den Tod – und findet Marguerite, die hier freilich weder er noch das Publikum erkennt, denn hier firmiert sie als schicke Business-Frau im kleinen Schwarzen, die Fausts Giftfläschchen durch eine Droge ersetzt. Sie ist Mephistos Assistentin, der für den halluzinogen gedopten Faust ein Showportal aus Schnurvorhängen auf die Bühne zaubert und für ihn höchstselbst die Osterchöre dirigiert.
Mephisto also ist in dieser Inszenierung der böse Entertainer, der alles, was die Welt an Inhumanem und Erschreckendem, Beglückendem und Erhabenem zu bieten hat, in ein plattes mediales Surrogat verkehrt: Zynismus als Kunstprinzip führt zur affirmativen Unterhaltung. Und genau zu diesem Zynismus will dieser Medien-Mephisto den armen Faust be- (oder ver-)kehren. Man könnte hier, zumal dieser Faust ja ein Kamerakünstler ist, an Leni Riefenstahl denken, aber Moses verweigert die nahe liegende Assoziation. Robert Hayward singt und spielt den Méphistophélès wirklich umwerfend gut, ein rotblondierter Hüne im schwarzen Showmaster-Glanzanzug, der in großspuriger Garstigkeit mit seinen Showformaten hantiert, agil und grell chargiert und manipuliert. Er führt seinen Faust zunächst statt in Auerbachs Keller auf den Paukboden korporierter Studenten, wo Brander als alter Geck mit giftgrünem Jackensaum sein böses Regiment führt, und auch danach nicht etwa nach Leipzig, wo besagter Keller zu finden wäre, sondern in die anmutige Elbauen und nach Dresden. Die Auen erscheinen als Projektion in einem riesigen Faust-Kopf, der von Mephisto durch die Gabe von Drogen zunächst kräftig vernebelt wird, später erscheint Dresdens turmreiches Weichbild in zwei Brillengläsern, die rechts und links von Panzern gehalten werden. Dresden als Stadt militärischer Verwüstung, die wiederauferbaute Altstadt als scheinbar heile Kulisse: Wieder so eine Trugbild.
Man kann an diese Trugbilder vielfache politische und mediale Assoziationen knüpfen, die Moses vor allem im Osten Deutschlands oder Europas findet. Der Rechtsruck in Ungarn hat ja dort auch die Künstler massiv getroffen und sie zur Positionsbestimmung herausgefordert. Das schöne Dresden gibt die Kulisse rechtsradikaler Aufmärsche ab. Die biederbürgerliche Gretchen-Stube, aus der man durch ein horizontal gekipptes gotisches Fenster auf das Elbeufer mit der Dresdner Altstadt schaut, ist eine verlogene Idylle. Aber als Dunkelmänner in faschistoid-schwarzen Anzügen den Dresdner Bildungsbürgern ihre Bücher verbrennen und Faust sich beherzt dazwischen wirft – da ist auch das wieder nur eine Inszenierung. So versucht Mephisto, seinem Künstleropfer den Boden unter den Füßen wegzuziehen, bis der unter dem Druck, seine vermeintlich todgeweihte Geliebte zu retten, Mephisto seinen Namen auf den Wanst schreibt und sich den Faschisten ausliefert. Er wird, wie gesagt, zum Spielball der Bösen, Marguerite wird zur falschen Madonna verklärt – und von Mephisto durch eine Hostie vergiftet. Künstler, lass dich nicht vereinnahmen, wie sehr du auch immer zweifelst, womit man dich auch lockt oder hinters Licht führt: das ist Andrea Moses dringlicher, szenisch aber oft auch etwas zerfahrener Appell. Sie ist offenbar überzeugt, dass in einer Welt der medialen Surrogate weder Religion noch Politik, sondern nur der Künstler die Chance hat, dem Simplen das Komplexe, dem Zynischen das Humane, dem Surrogat das Authentische entgegenzusetzen. Ein hoher Anspruch!
Wenn doch nur die Musik solchen Ansprüchen genügt hätte. Aber ausgerechnet in dieser Inszenierung könnte man dem Dirigat Kwamé Ryans das vorwerfen, wogegen die Inszenierung aufbegehrt. Statt sich auf das irrlichternd Heterogene, das subtil Komplexe und vertrackt Vielgestaltige von Berlioz einzulassen, dirigiert Ryan auf sehr pauschale Weise schön und belanglos: Softsound von sanft bis üppig, dabei rhythmisch unkonturiert und manchmal sogar verwackelt. Und das, obwohl die Voraussetzungen für hohe musikalische Qualität nicht schlecht waren. Mit seinem herben Timbre und seiner wuchtigen Diktion ist Robert Hayward zwar kein idealer Schönsänger, aber ein hinreißend charaktervoller Méphistophélès. Pavel Cernoch als Faust hatte Probleme mit der Registermischung in einigen Spitzentönen dieser extremen Partie, singt aber mit jugendlich schlankem, im Laufe des Abends immer stabilerem, flexibel geführtem Tenor. Und Maria Riccarda Wesselings Mezzo hat ein interessant glitzerndes, irrlichterndes Timbre, das zwar nicht unbedingt zum naiven Gretchen, aber durchaus zu der diabolischen Marguerite passt, die Moses uns in ihrer Inszenierung zeigt – wobei man festhalten muss, dass ihre Höhe arg grell aufflackert und sie deshalb sicher keine Idealbesetzung ist. Dazu der profiliert garstige Brander von Mark Munkittrick, die von Michael Alber und Johannes Knecht (Kinderchor) einstudierten, szenisch und vokal eindrucksvoll präsenten Chöre: mit diesem Material hätte man arbeiten können. Doch bei Ryan langte es leider nur zu einigen schönen Stellen und viel undifferenziertem Pauschalklang. Wer dieser Tage hören will, wie interessant der Musiktheater-Komponist Berlioz klingen kann, sollte nach Karlsruhe fahren, wo der neue GMD Justin Brown in den „Troyens“ all die Entdeckungen macht, die Ryan in Stuttgart liegen lässt.