Foto: Der Künstler ringt mit dem Weibe – Shigeo Ishino in Arnold Schönbergs Musikdrama „Die glückliche Hand“. © A.T. Schäfer
Text:Detlef Brandenburg, am 12. März 2012
Es fällt heute nicht ganz leicht, das Schöpferpathos all der Künstlerdramen nachzuvollziehen, die um die vorletzte Jahrhundertwende herum entstanden sind. Zumal dort immer nur der Mann der Schöpfer ist und die Frau allenfalls als Inspirationsquelle und ansonsten als Schaffenshindernis vorkommt. Dass nun Jossi Wieler und Sergio Morabito, Dreamteam der Opernregie seit nahezu 20 erfolgreichen gemeinsamen Jahren und seit Beginn der Saison Intendant und Chefdramaturg an der Oper Stuttgart, gleich zwei besonders sperrige Exemplare der Gattung, Schönbergs atonal entfesseltes Minidrama „Die glückliche Hand“ und Janáceks extrem komprimierten Dreiakter „Osud“ (Schicksal), zu einer Doppelinszenierung koppeln wollten, schien die Sache nicht unbedingt leichter zu machen. Doch am Ende gelang den beiden ein typischer Coup nach Stuttgarter Manier: dramaturgisch hochintelligent und im theatralen Detail von einer Tiefenschärfe, wie sie derzeit vielleicht nur mit diesem Ensemble und diesem phänomenalen Chor möglich ist.
Schönberg beschreibt mit allem expressionistischen Pathos und einer wortreich ausformulierten synästhetischen Farb-Licht-Personen-Regie, wie „ein Mann“ seinem gespannten Verhältnis zum „Weib“ die schöpferische Tat abringt, woraufhin das Weib allerdings, statt den Schöpfer zu bewundern, nichts Besseres zu tun hat, als sich mit „einem Herrn“ einzulassen. Was den Künstlermann der Genre-typischen Verzweiflung anheim gibt. Wenn man das wörtlich inszenierte, wäre das Ergebnis pathetischer Kitsch. Wieler und Morabito jedoch zeigen auf Bert Neumanns schwarzer Plastikplanen-Gassenbühne einen Künstler, der seine Gestik und Mimik offenbar bei Kintopp-Helden wie Buster Keaton gelernt hat. Anfangs, auf einer Ottomane vor einem Paravent, umringt von einem Dutzend mahnender Über-Ich-Quälgeister in Strumpfmasken und schwarzweiß getigerten Hausmänteln, ringt er mit seiner Inspiration, bis er den Glitzervorhang hinter ihm lüpft – und eine riesige, atombusige, aufblasbare Stoffpuppe freilegt: das Weib! Zunächst besteigt er das Busengebirge noch halbwegs erfolgreich und schafft aus Begeisterung darüber mit glücklicher Hand und Fortissimo-Hammerschlag ein kostbares Geschmeide. Doch da die Schöne sich alsbald abwendet, ist die Luft dann auch schon raus aus dem Lustobjekt, und das arme Künstlerlein, dem Shigeo Ishino eine wunderbar verzappelte Trostlosigkeit gibt, versinkt heillos im schlappen Weibesleib.
Das hatte sich Schönberg ja nun doch etwas anders vorgestellt. Aber als salopp kommentierendes Satyrspiel zur Schöpfertragöde in „Osud“ bekommt die Sache einen wunderbar frechen Witz. Auch Janáceks Komponistenheld Zivny nämlich ist vollkomen unfähig, mit seiner geliebten Míla so umzugehen, dass eine Chance auf eine glückende Beziehung besteht. Diese Oper, die 15 Jahre auf drei Akte komprimiert – ein mondänes Kurbad, eine häusliche Familienhölle, ein Konservatorium mit Zivny als Professor –, zeigt, wie der Komponist seine einstige Geliebte Míla wiedertrifft, wie er als Familienvater versagt, weil er immer wieder in seiner Kunst versinkt, und wie er als Künstler kurz vor der Uraufführung seiner Oper zusammenbricht. Der Künstler Janácek zeigt also einen Künstler, der eine Künstleroper schreibt. Daraus ergeben sich mannigfache Spiegelungen und kunsttheoretische Beziehungen, die aber Wieler und Morabito nicht sonderlich interessieren.
Vielmehr konzentrieren sie sich ganz auf das Thema, das sie in „Die glücklich Hand“ exponiert haben: Künstlers Erdenwallen und seine Unfähigkeit, Werk und Welt auf einen lebenspraktischen Nenner zu bringen. In der Tat kehren hier Versatzstücke aus der „Glücklichen Hand“ wieder: der Paravent, der Künstler auf der Ottomane. Nur sind die theatralen Mittel völlig andere. Hier nämlich erzählt die Regie in Nina von Melchows nunmehr fotographisch detailgenauen Kostümen eine Geschichte im Tschechow-Realismus, der freilich durch Neumanns Plastikgassenbühne und einige salopp eingehängte Versatzstücke auch wieder ironisch gebrochen und damit als künstlich entlarvt wird. Die Kurbad-Idylle gibt mannigfach Gelegenheit zur Parodie auf das bürgerliche Gesellschaftsleben, die Wieler und Morabito dankbar nutzen. Man amüsiert sich über scharwenzelnde Kurschwerenöter, blaustrümpfige Lehrerinnen, in Contenance erstarrte Bürgerdamen – und sieht auf den ersten Blick, dass Míla zu herzensklug für diese Banalwelt ist und Zivny zu tiefsinnig. Oder zu humorlos. Sonst hätte er womöglich genau die komische Oper geschrieben, der Janácek hier im ersten Akt sehr possierlich die Zügel schießen lässt. Doch Zivny interessiert nicht die Welt und auch die Geliebte nur in Maßen. Er lebt dem _Werk_, und das handelt vom Schöpfer – also von ihm selbst.
Janácek buchstabiert diese Künstler-Egomanik und die daraus resultierenden Lebenskatastrophen mit aller Schärfe durch. Wobei es eine besonders böse Pointe ist, dass der Künstler am Ende zumindest insoweit vom Leben besiegt wird, als Mílas Tod ein banaler Unfall ist: Sie wird von ihrer wahnsinnigen Mutter vom Balkon gerissen. Und eben dieses banale Ende seiner Beziehung hindert Zivny, seine Oper, die von dieser Beziehung handelt, sinnstiftend zu vollenden. Sie bleibt zum Befremden seiner Studenten Fragment. Damit aber steht eine Kunstform im Raum, die später um 20. Jahrhundert eine gewichtige Rolle spielen wird.
Dass Wieler und Morabito im ersten Teil eine salopp hingeworfene Behauptung aufstellen und diese im zweiten Teil ausführlich begründen und differenzieren, stiftet den sinnvollen Zusammenhang zwischen dem slapstickhaftem Symbolismus der „Glücklichen Hand“ und dem ironisch gebrochenen Detailrealismus von „Osud“. Wunderbarerweise gelingt das aber auch dem Dirigenten Sylvain Cambreling, der hier als Stuttgarts zukünftiger GMD eine respekteinflößende Visitenkarte vorzeigt. Dass er den Schönberg subtil ausbalanciert und im expressionistischen Radikalisten den Klangzauberer entdeckt, ist allein schon bestechend. Wie er dann aber die ganze Vielschichtigkeit aus thematischer Arbeit, impressionistischem Stimmungszauber, saloppen Volksmusikparodien und pathetisch gewitterndem Pathos in Janáceks „Osud“ herausarbeitet und aus dieser transparenten Komplexität immer wieder Klangbrücken zu Schönberg schlägt – das ist grandios. Natürlich sind die zwölf Chorsänger in der „Glücklichen Hand“ Extraklasse, natürlich vollbringt der Chor in „Osud“ schauspielerische Wunder, ist das Riesenensemble bis in kleinste Nebenrollen glänzend besetzt. Rebecca von Lipinski singt eine leuchtend helle, damenhaft-ausstrahlungsstarke Míla, Rosalind Plowright gibt ein finsteres Porträt der keifenden Mutter. Und John Graham-Halls Charakterisierung des Zivny zwischen Künstler-Zerrissenheit und Professoren-Eitelkeit ist eine sängerdarstellerische Glanzleistung – mit der Einschränkung, dass er seiner Figur ein bisschen zu viel flackerndes Espressivo mit ins Bühnenleben gibt.
Am Ende Begeisterung ohne Ende – auch das ist Stuttgart: dass das Publikum so einen sperrigen Brocken nicht nur schluckt, sondern richtig Geschmack dran findet. Das Schicksal ist der Staatsoper günstig, das Leitungsteam hat eine glückliche Hand. So ist man auf dem besten Weg, die Tugenden der Zehelein-Ära wieder aufleben zu lassen.