Foto: Präzise agierendes Tanzensemble: Yi Yu, Neven Del Canto, Marine Sanchez Egasse, Laura Martín Rey, Gabriella Lemma, Hampus Larsson und Teresa Vega Alcázar Díaz. © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 10. November 2019
Mit welcher Überzeugungskraft die Dance Company des Theaters Osnabrück einfach mal die elegant ornamentale Körpersprache ihres Chefs Mauro de Candida beiseitelässt und dank Ben J. Riepe eine völlig andere Art des Erzählens, Tanzens und Inszenierens feiert, das zeugt von kreativer Neugierde und tänzerischer Kompetenz. Dabei ist das Sujet der Uraufführung höchst schemenhaft: Gespenster im Zombie- und übertragenen Sinne sollen die Bühne bevölkern.
Den Prolog spendiert Mauro de Candia als Choreograph, Bühnen- und Kostümbildner: „Traum im Traume“. Eine opake Leinwand versperrt den Blick auf die Bühne, ihre Oberfläche changiert in schönster Farbwechselei von Paradiesgrün über Höllenrot zu Himmelblau. Schwirrende und zwitschernde Klänge Krzysztof Pendereckis brausen durch den Raum. „Was soll das, man sieht ja nichts“, ist im Publikum zu hören. Denn was ein – laut Besetzungszettel – Tanzquartett gerade so als Arbeitsnachweis anbietet, ist zu Beginn tatsächlich nicht einmal zu ahnen. Erst nach und nach deuten diffuse Schatten auf der Leinwand vom augenscheinlich nackten Treiben hinter der Sichtblende. Ephemere Gestalten gewinnen immer mal wieder als Silhouette an Kontur, ihre Bewegungen an Klarheit. Schließlich beim Anschmiegen an die Leinwand auch an dreidimensionaler Plastizität. Ein faszinierendes Arrangement: Als schaute man von oben auf einen zugefrorenen See und entdeckte unter der dicken, die Blicke unscharf im Trüben fischen lassenden Eisschicht einige Lemuren, die gen Oberfläche ballettieren und sich dabei physisch manifestieren. Sieht wirklich toll aus. Aber was soll das? Dramaturgin Patricia Stöckmann schreibt dazu ins Programmheft: „Schemenhafte Gestalten lichtern umher und entziehen sich jeglicher Eindeutigkeit und Greifbarkeit.“ Okay, also muss jeder selbst nach Gusto überlegen, ob diese formvollendete Stilübung von artifizieller Wesenlosigkeit ist oder auch etwas zu bedeuten hat.
Das genaue Gegenteil, nämlich ein dringliches Thema von globaler Dimension als Ausgangspunkt einer auch tänzerischen Auseinandersetzung zu nehmen, versucht Ben J. Riepe mit „Geister (say goodbye)“. Ganz konkret will er die Bedrohung irdischer Biotope durch die ausbeuterische Herrschaft des Menschen auf dem blauen Planeten bewusst machen. Da steht dann das komplette Ensemble, von Gwen Wieczorek in Reste schnieke weißer Kostüme geschweißt, auf der nun unverhängten Drehbühne. Mit weit schwingenden Armen und zähnebleckendem Lächeln wirft es sich in Posen und stellt die Anmut koketter Drehungen, Wendungen sowie Bewegungszierrat selbstgenießerisch aus. Wünsche, Obsessionen und Ängste scheinen auf. Yi Yu nimmt das Mikrophon in die Hand – ja bei Riepe dürfen, sollen, müssen Tänzer auch sprechen. Der chinesische Künstler erzählt von seiner Mutter, die in Jugendjahren in einem Fluss ihrer Heimat baden konnte, der heute mit Industriegiften zu Tode verdreckt ist. Er erzählt von seiner Zeit in Peking, wo er mit Atemschutzmaske herumlaufen musste und weder Mond noch Sterne sehen konnte – aufgrund der Luftverschmutzung. Andere aus dem Ensemble treten hinzu, alle plappern ihre Fridays-for-future-Statements durcheinander. Zwei Männer auf Kothurnen umkreisen das Geschehen und zählen den Countdown bis zur Apokalypse, während Kollegen gern die Diagonale als Laufsteg nutzen.
Bald herrscht wieder Schweigen. Eitle Verrenkungen entgrenzen die Tänzer gänzlich unakademisch in Zappelphilipp oder mechanisieren sie in Hampelmannmanier. Machen einfach immer weiter – wie wir Menschen mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage, soll das wohl heißen. Die treibende Klangcollage verweist dazu mit Vivaldi-, Jazz- bis Techno-Zitaten auf die Historie des Tanzens auf dem Vulkan. Zu Marschmusik und Sirenengeheul werden schließlich Stühle umgeschmissen, das Ensemble windet sich tödlich krampfend auf dem Boden herum und feiert die Wiederauferstehung ihrer Körper mit einer Gospel-Darbietung. Ja, bei Riepe dürfen, sollen, müssen die Tänzer auch singen. Und die Bühne verlassen, um das Publikum zu umarmen. Immer wieder treten Solisten zudem mit Schmerzenstänzen aus der Gruppe heraus, nur um wieder zurückgeholt zu werden ins strahlegesichtige Absolvieren aparter Arabesken des zeitgenössischen Balletts. Später tritt Hampus Larsson vors Publikum und rezitiert sein „goodbye poem“: verabschiedet sich von den Eisbären, Dschungeln, abgasfreien Windbrisen, dem Golfstrom – und behauptet: „Computers, well maybe they’ll be there forever / but the world as we know we’ll see again never“. Tote Bäume schweben aus dem Bühnenhimmel herab. Ja, das ist alles schon ein bisschen prätentiös.
Aber auch lustig. Wenn ein paradiesischer Neuanfang versucht wird – zu erleben als ironischer Pas de deux eines Affenmanns mit beischlafwillig zuckender Hüfte und schwerst verknoteter Schlangenfrau. Oder die gesamte Company versucht, mit einer Schreitherapie den Niedergang des Anthropozäns zum Guten zu wenden, während auf Bildschirmen Feuerbrünste vom Bösen und demonstrierende Indigena vom Widerstand künden. Worauf eine dystopische Utopie folgt. Das vielseitig mit stupender Technik und Präzision agierende Ensemble verwandelt sich mit lässig stolzer Geschmeidigkeit in eine majestätische Löwenherde, die sich liebkost und friedlich einschläft. Die Menschen sind nur noch Geister der Vergangenheit, so könnte man hineindeuten in diese Produktion, die an der Schnittstelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem angesiedelt ist, aber weniger als eine Choreographie, eher als eine skurrile Collage bewegter, klingender, sprechender, apart illuminierter, atmosphärisch vielfältig schillernder Bilder, aufgeladen mit religiösen und kunsthistorischen Motiven. Eine künstlerische Frischzellenkur für die Osnabrücker Tanzsparte. Beeindruckend.