Foto: Vorn: Susann Vent (Zaunschlüpfer), Johannes Schwärsky (Prometheus), Almerija
Delic (Drossel); hinten: Heikki Kilpeläinen (Ratefreund), Genadijus Bergorulko
(Adler), Chor. Szene aus Yong Kims "Vögel"-Inszenierung in Osnabrück. © Jörg Landsberg
Text:Detlef Brandenburg, am 22. Juni 2014
1913 hat Walter Braunfels seine Oper „Die Vögel“ begonnen, 1920 wurde sie in München unter Bruno Walter mit großem Erfolg uraufgeführt. Allein diese zeitliche Konstellation sagt viel über das Werk. Denn dazwischen lagen der Erste Weltkrieg und Braunfels‘ Einberufung als Soldat 1915 sowie 1918 seine Verwundung und die Konversion zum Katholizismus. Braunfels‘ Textentwurf war wohl bereits vor dem Krieg abgeschlossen, mit einer sehr persönlichen Abwandlung von Aristophanes‘ Vorlage: Hier kommt es tatsächlich zum Krieg zwischen den Vögeln und Zeus. Ihr hybrides Wolkenkuckucksheim, jene „Veste“, mit der sie die griechischen Götter herausfordern, geht im göttlichen Blitz und Donner unter. Und Ratefreund und Hoffegut, die beiden menschlichen Helden der Oper, die im Vogelreich eine ideale Gegenwelt gesucht und die Vögel in den wahnwitzigen Krieg getrieben hatten, kehren reumütig zurück zum heimischen Ofen in der „großen Stadt“. Die Musik aber hat sich ab dem zweiten Akt kaum merklich gewandelt, verdüstert von romantisch melodiöser Unbekümmertheit hin zu einer fast impressionistischen Zerrissenheit.
In ihrer das Werk genau aushorchenden Inszenierung am Theater Osnabrück fängt die koreanische Regisseurin Yona Kim diese Verwandlung in grellen, scharf gezeichneten Bildern ein. Es ist eine große Qualität, dass Kim die Janusköpfigkeit dieser Oper dabei nicht auf eine Aussage zusammenstaucht, sondern sie als Chance für eine einerseits anspielungsreiche, andererseits aber durchaus genaue, manchmal plakative szenische Totale nutzt. Mit ihren Bühnenbildnerinnen Evi Wiedemann und Margrit Flagner und dem Kostümbildner Hugo Holger Schneider nimmt sie das metaphorisch-pittoreske Potential, das in Aristophanes‘ Vogelstaat liegt, offensiv an. Die Bühne wimmelt nur so von bizarren Schwalben, Kiebitzen oder Wendehälsen, angeführt von einem Wiedehopf (Daniel Moon), der aussieht wie eine schwarzdüstere indianische Gottheit. Dass Drossel (Almerija Delic) und Zaunschlüpfer (Susann Vent) aussehen wie mondäne 20er-Jahre-Showgirls, weist die Richtung: Man kann diese ganze Szenerie mit ihrem Goldlamé-Glamour und der Nachtigall als Star im goldenen Käfig durchaus als Tingeltangel-Revue lesen, in der sich die Kriegsbegeisterung der Vorkriegszeit spiegelt.
Und diese Revue folgt in ihren Accessoires genau dem Gang der Geschichte während der Entstehung der Oper: Die Kriegsbegeisterung der Vögel wird mit Pickelhauben und schwarzweißroten Schärpen instrumentiert. Als Prometheus in einem wirklich grandiosen Auftritt die Vögel vor der Herausforderung des Göttervaters Zeus warnt, erscheinen Projektionen von Kriegsszenen des ersten Weltkriegs. Und nach der Zerstörung der Vogelfestung, die im zweiten Akt als kubistisch verschachtelter Bunker die Bühne beherrscht, folgt eilig der Wiederaufbau der Show – aber nun sind die Stars nicht mehr mondäne Revuevögel, sondern germanisch blonde Zopfperücken-Mädel, und auffällig unauffällig mischen sich ein paar Burschen in braunen Hemden unters Volk.
Den beiden menschlichen Helden Ratefreund und Hoffegut kommt die Rolle der treibenden Protagonisten zu. Sie rufen die Geister, erkennen viel zu spät, dass es böse Geister sind, und machen sich nach der Katastrophe aus dem Staub. Und man ist erstaunt, wie gut auch das in Yona Kims Inszenierung aufgeht. Ratefreund ist in seinem durablen Gentleman-Outfit der Mann der großen Baupläne: ein Unternehmer, der sich als Kriegsbaumeister andient (Anspielungen auf Albert Speer gibt es keine, aber sie liegen nahe). Hoffegut dagegen, ein 20er-Jahre-Freigeist mit runder Strohhut-„Kreissäge“, ist bei Yona Kim der romantische Künstler, der dem National(sozial)ismus das Motiv-Inventar für die Verherrlichung des Deutschen liefert (eine Projektion von Caspar David Friedrichs in Herrscherpose auf Bergeshöhen stehenden „Wanderers über dem Nebelmeer“ macht das dingfest) und am Ende seine Ideale martialisch missbraucht sieht. Dass er tatsächlich hellsichtig wird, verdankt er dem Gesang der Nachtigall – in dieser Deutung der zarten Liebe zwischen dem romantischen Künstler und der gefiederten Artistin liegt vielleicht der intelligenteste Schachzug dieser Inszenierung. Denn die Nachtigall ist hier einerseits als Revuestar die Agitatorin, die die Vögel mit ihrem Gesang zum Plan der Himmelsfestung betört; andererseits aber ist sie die sensible Seelensängerin, die genau spürt, wie in der Kriegsbegeisterung Leid, Gewalt und Katastrophe lauern. In dieser Ambivalenz bildet sie sozusagen die Fortsetzung von Hoffeguts propagandistisch missbrauchtem romantischem Künstlertum: eine Allegorie auf die Rolle der Kunst in politisch fanatisierten Zeiten.
Wie Yona Kim das durch Personenregie, Tableaus und präzise gesetzte Metaphern umsetzt, ist hochprofessionell und dabei auch noch sehr unterhaltsam, nie belehrend, nie penetrant eindeutig. Und wie das um einige Gäste verstärkte Ensemble des Osnabrücker Theaters das alles spielt und singt, ist einfach umwerfend. Wobei ausgerechnet die exponierteste Sängerin zum Haus gehört: Marie-Christine Haase als Nachtigall, deren silberklar funkelnder, agiler Koloratursopran wunderbar leicht durch die dreigestrichenen Höhen turnt, und die zudem eine richtig starke Figur auf die Bühne stellt. Auch der Bassbariton Heikki Kilpeläinen liefert – weniger auffällig, aber keineswegs weniger brillant – eine facettenreiche Charakterisierung des Tatmenschen Ratefreund zwischen sonorer Seriosität, dröhnender Agitation und markanter Überzeichnung. Alexander Spemanns Tenor würde man ein bisschen mehr lyrischen Schmelz für Hoffeguts wunde Seele wünschen, aber gestalterisch nimmt er die Partie auf sehr hohem Niveau an. Daniel Moon ist ein markanter, vielleicht etwas eindimensionaler Vogelkönig. Und einen starken Auftritt hat Johannes Schwärsky als basswuchtiger Prometheus: ein Warner vor dem Krieg von tiefschwarzer, bannender Präsenz, der Körper blutüberströmt, die Stimme leidgetränkt.
Und noch einen Helden hat diese Aufführung: Andreas Hotz, dem jungen GMD des Theaters Osnabrück, gelingt mit dem vorzüglich spielenden Orchester eine maßstäbliche Interpretation der Partitur: schlank und klar in den Stimmen, transparent im Klangbild, melodiös atmend, aber nie gefühlig oder kitschig (was bei Braunfels‘ gefälliger, eigentlich noch einmal gemäßigt moderner Musik durchaus denkbar wäre) und mit feinem Gespür für die subkutane Eintrübung, die die Musik ab dem Duett Nachtigall-Hoffegut erleidet. Dem vermeintlich kleinen Osnabrücker Theater ist ein großer Opernabend gelungen!