Foto: Szenenfoto aus „Operation Big Week“ am Theater Augsburg . v.l.n.r: Tjark Bernau, Klaus Müller, Eberhard Peiker, Sarah Bonitz, Ulrich Rechenbach, Eva Maria Keller © A.T. Schaefer
Text:Martin Bürkl, am 17. Februar 2014
Nach der Vorstellung bleibt ein seltsames Gefühl im Kopf. Eines, das Jahre nach Abitur und Uniabschluss kaum wiederzuerkennen ist: Als hätte man sich nächtelang Informationen eingetrichtert, um eine harte Prüfung zu bestehen. Eine Klausur, die wahlweise in Geschichte, Politikwissenschaft, Physik oder Medizin stattfinden könnte.
Die Augsburger Brechtbühne, ein offener Raum, der sich ohne Umbauten in vieles verwandelt, aber immer zweierlei ausstrahlt: Kühle und Distanz. Rob Moonens Ausstattung aus hölzernen Gerippen erinnert eher an ein Technikmuseum, denn an zerbombte Stadtteile. Aufrecht stehen Rumpf und Tragfläche eines halbfertigen Kampfflugzeuges im Raum, ein kleines Bomber-Mobile ziert den Tisch für einen Sektempfang und später werden technische Zeichnungen oder Stadtansichten Augsburgs projiziert, entstanden vor und nach den Angriffen der Alliierten im Februar 1944 – der »Big Week« genannten Dauerluftangriffe auf deutsche Rüstungsbetriebe.
Von diesem musealen Erscheinungsbild unterstützt, üben sich alle sechs Schauspieler in größter Rollendistanz und betreiben ausschließlich zitierendes Figurenhopping, legen aber nie ihre gut sitzende Geschäftskleidung (Kostüm: Katharina Diebel) ab. Besonders großartig der wandelbare Eberhard Peiker zwischen väterlich-fürsorglich und teuflischem General und die vor Bürohelden-Pathos schier berstende Eva Maria Keller. Zitiert und rezitiert werden diverse Aktennotizen, Berechnungen aus dem Flugzeugbau, Reden und kriegsstrategische Vorträge aus deutschen, britischen und US-amerikanischen Quellen. Geheimpapiere zur Verwendung von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Dachau im Flugzeugbau gehören ebenso dazu, wie Sitzungsprotokolle des Augsburger Stadtrates oder Anleitungen für Luftschutzübungen. Wenn die Texte persönlich werden, sind sie längst gedruckte, grammatikalisch geschönte Erlebnisberichte von Piloten und Brandbombenopfern; echtes Gefühl, Spontaneität oder Tagebucheinträge kommen nicht vor.
»Eher ein Arbeits- als ein Erlebnisangebot« seien seine Stücke zur europäischen Grenzsicherung, zum Deutschen Herbst oder über Kindersoldaten, so Kroesinger. Und tatsächlich stellt er seit den 1990er Jahren den strengen Gegenpol zu seinen Gießener Studienkollegen dar, die seit Jahren deutsche Bühnen mit Performance und Pop-Theater prägen. Kroesingers »Dokumentar-Theaterabend« ist keine Neuauflage politisch klarer Standpunkte der 60er und 70er. Er legt zwar den Finger in gerne vergessene Wunden, jedoch ohne mit dem Dampfhammer zu erklären, zu deuten oder zu mahnen – und das trotz einer gewissen Form des »Frontalunterrichts« (Katrin Bettina Müller, TAZ). Nicht nur Zahlen und von verschiedenen Seiten geschönte Wahrheiten scheinen den Autor zu interessieren, sondern insbesondere die Aussagekraft von Sprache, doch die Zitate lassen im Fokus der Aufmerksamkeit fast jeden Satz zur Worthülse werden; egal, ob der ursprüngliche Texter bewusst etwas verschleiern oder endlich einmal die Wahrheit zu formulieren gedachte. Floskeln, Floskeln und nochmals Floskeln.
Nach eineinhalb Stunden nimmt die Inszenierung plötzlich Fahrt auf, es folgen Musikeinspieler von Hans Albers, Freddy Quinn und ein Nachkriegsinterview mit Willy Messerschmitt im »Spiegel«. Wir sind angekommen im Hier und Jetzt mit den Versuchen der Stadt Augsburg, 2010 einen Neonazi-Aufmarsch zu verbieten: die Schauspieler umstellen das Publikum auf der Tribüne und tragen aus entsprechenden Protokollen vor. Und dann kommt uns die Handlung zeitlich noch näher. Der Abend endet mit einem schonungslosen Augenzeugenbericht über Verletzungen von Kriegsopfern, der letzte Satz nennt dessen Ursprung: »Syrien, Provinz Aleppo, April 2013«. Doch noch immer wacht über der Szenerie der steinerne (längst entnazifizierte) Reichsadler.
Hans-Werner Kroesinger ist ein Fremdkörper in jedem Spielplan, aber einer, über den Nachzudenken sich absolut lohnt!