Foto: Die Dornenkrone aus Stacheldraht wurde erfolgreich vergoldet. Szene aus „La Passione“ in den Hamburger Deichtorhallen, im Hintergrund Kent Nagano und seine Musiker. © Bernd Uhlig
Text:Detlef Brandenburg, am 22. April 2016
Eine Stunde lang hatte man mehr oder minder bewegt den Klängen von Bachs „Matthäus-Passion“ gelauscht und mehr oder minder interessiert diese Revue seltsamer Trouvaillen bestaunt, die der große Bühnenmagier Romeo Castellucci da in die nördliche der Hamburger Deichtorhallen verfrachtet hatte. Da aber passierte etwas wirklich Verstörendes: Ein Zuschauer erlitt einen Schwächeanfall, musste mühsam aus den Reihen der riesigen, steil ansteigenden Zuschauertribüne heraustransportiert werden, die für diese Außenproduktion der Hamburgischen Staatsoper in die gewaltige, 4000 qm große weiße Halle hineingewuchtet worden war. Und das nicht enden wollende Geklapper und Gerumpel derer, die sich um den Kollabierten bemühten, legte Zeugnis davon ab, dass da, sehr real und sehr existenziell, ein Mensch zu leiden hatte, während wir uns im Auditorium an einem ästhetischen Surrogat des Leidens delektierten. Ein schales Gefühl blieb zurück, zumindest bei mir. Und in tröpfelndem Nacheinander verließen danach einige Zuschauer vorzeitig die Aufführung.
Prince übrigens lebte auch schon nicht mehr, als die Uraufführung von „La Passione“, so der etwas melodramatische Titel, in Hamburg ihren Lauf nahm. Ich konnte es dem Smartphone-Display meines Vordermannes entnehmen, der während der Aufführung auf Spiegel online den Nachruf las. „Sehet, Jesus hat die Hand uns zu fassen ausgespannt“ – diese Zeile aus Picanders Text bekam vor diesem Hintergrund eine etwas unheimliche Bedeutung. Tatsächlich hat ja die Verehrung, die die Jünger der Pop-Ikone Prince entgegen brachten, etwas Pseudoreligiöses. Und das nicht etwa trotz, sondern wegen der sinistren Selbststilisierung, die die Karriere von Prince umranken: Der sündige Popstar als Welterlöser – auch das passte irgendwie zum Assoziationskreis dieses Passionsabends. Aber es war genau dieses „Irgendwie“, an dem Castelluccis Theater der skandalösen Objekte am Ende doch sehr ernüchternd scheiterte.
Natürlich wollte Castellucci das Passionsgeschehen nicht narrativ nachbuchstabieren, natürlich verneigt sich das Programmheft vor der inkommensurablen Tiefe der Musik, natürlich wird daraus der Schluss gezogen, dass man ein solches Werk beileibe nicht im traditionellen Sinne „inszenieren“ dürfe. Stattdessen präsentiert Castellucci Objekte, Vorgänge und Aktionen, die er in unserer heutigen Alltagswelt vorgefunden hat, oft ausgeführt von genau denen, die diese Handlungen auch im wirklichen Leben ausführen, von Laien also, Experten ihres Berufs- oder Freizeitalltags, den sie uns nun auf der Bühne in Ausschnitten zeigen. Diese Aktionen ähneln tatsächlich eher den Environments oder Happenings einer Ausstellung als einer Inszenierung, was natürlich zum Aufführungsort passt. Castellucci überantwortet ihre Interpretation sehr weitgehend den Zuschauern, die sie, inspiriert durch die Passionsmusik, doch bitte mit ihrer persönlichen Bedeutung aufladen mögen. Und das extrem hybride Verhältnis zwischen dem, was man als Musik hört und als projizierten Passionstext auf einem Screen über der Bühne liest, sowie dem, was auf dieser Bühne vorgeführt wird, lässt das eine zum Stolperstein des anderen werden – zum Anstoß erregenden „Skandalon“.
Dies alles also ward in tadelloser postdramatischer Korrektheit erdacht und mit erheblichem Aufwand ausgeführt auf einer riesigen weißen Fläche vor den weiß gewandeten Orchestermusikern und Choristen, umgeben von weißen Vorhängen – so dass man unwillkürlich an ein anderes religiöses Werk denkt, Stockhausens „Sonntag“, der Erlösungstag aus dem Zyklus „Licht“, dem die Farbe Weiß zugeordnet ist. Doch bei „La Passione“ will gelitten sein. Also: Was sieht man hier? Man sieht, wie der Gipskopf von Tiberius Julius Caesar Augustus (42 v. Chr. bis 37 n. Chr.) auf ein Postament gestellt wird. Das ist – aha! – jener Kaiser Augustus, von dem zu jener Zeit ein Gebot ausging, dass alle Welt geschätzet würde. Uns wird suggeriert, dass nach Applikation einer blauen Flüssigkeit Ammoniaknebel aufsteigt – Ammoniak ist der letzte Duft, den der verwesende Körper entlässt, er gehört also – Achtung, Stolperstein! – eigentlich nicht hierher, da Jesu Leib ja bekanntlich durch Auferstehung allem Irdischen und damit auch der Verwesung entrissen wurde. Dem Kaiserkopf folgt der Schädel eines Selbstmörders – laut Matthäus erhängte sich jener Judas Ischariot, der Christus verriet. Ein umgestürzter Bus des Personenbeförderungsunternehmens Lindner gleitet lautlos über die Bühne. Zu Ostern spritzt ein Blutstrahl aus der Brust eines ausgestopften Lamms direkt in einen Kelch und macht diesen zum Gral. Als Tatortreiniger treten anschließend auf: Mitarbeiter der seit 1963 in Hamburg tätigen Firma Seitz GmbH. Während Jesus in Gethsemane mit Gott ringt, ringen auf einer (selbstverständlich weißen) Matte zwei Mitglieder des Wandsbeker Athleten Club e.V. im griechisch-römischen Stil. Eine Steineiche wird mittels offenkundig sehr leistungsfähiger Baumscheren entastet und zum Kreuzesbalken aufgerichtet. Komparsen veranstalten einen kleinen Wettbewerb, wie lange sie sich in Kreuzigungspose an einer Reckstange zu halten vermögen. Eine ehemalige Karmelitin und heutige Atheistin steigt in einen Sarkophag in der Pose einer Knienden. Ein Stacheldrahtring wird zur Dornenkrone vergoldet, und Phenolphthalein verwandelt sich in zwei großen Glasröhren von farblos zu rot und wieder zurück zu farblos – oh du heiliger Chemiebaukasten, meiner Jugend Duft- und Freudenquell!
Und vielleicht genau deshalb, weil Castelluccis angeblich so wirklichkeitshaltige Aktionen in so beliebig-belangloser Beziehung zum Passionsgeschehen stehen – genau deshalb wird diese Produktion durch das wirkliche Geschehen von Leid und Tod, mit dem sie am Freitag Abend zufällig konfrontiert war, so nachhaltig infrage gestellt. Auch wenn es natürlich grundsätzlich unfair ist, die Fiktion der Kunst und die Dringlichkeit des Faktischen unmittelbar gegeneinander aufzuwiegen. Aber was traut sich eigentlich eine Kunst selbst zu, die dem Zuschauer ihre Gebrauchsanweisung in Form eines vielseitigen Heftchens auf den Sitzplatz legt (daraus auch die oben zitierten Informationen), dessen Lektüre während der Aufführung per Schriftprojektion ausdrücklich empfohlen wird? Ist das nicht ein selbst ausgestelltes Armutszeugnis für die Wirkungsmacht der ästhetischen Aktion?
Ein gewisser Trost war es, dass zumindest musikalisch gefällig musiziert wurde. Auch Kent Nagano zeigte sich dem traditionell düsteren und schweren Passionston eher abgeneigt, er präsentierte diese Musik tänzerisch beschwingt, fein geschliffen, zart konturiert, das Philharmonische Staatsorchester spielte bemerkenswert schöne Soli und Concerti, und die jungen Sänger der Audi Jugendchorakademie gaben den Chören einen ungewohnt hellen, aber sehr schönen Klang. Das hörte sich – in der per Lautsprecher auf die Riesenhalle abgestimmten Soundabmischung von Holger Schwark – sehr „hübsch“ an, blieb aber über ganze Strecken doch weit hinter dem zurück, was diese Musik eigentlich vermitteln will. Ian Bostridge tat sich schwer mit der Partie des Evangelisten, deren heikle Höhenlagen er nur durch Forcieren zu erklimmen vermag. Sonst aber hatte man Freude an den Solisten, vor allem an Philippe Sly, der, edel und klar timbriert, wohlartikuliert und hochkultiviert in der Stimmführung, alle Basspartien übernahm, und an dem klar fokussierten, strahlend tragenden Tenor von Bernard Richter. Hayoung Lee sang die Sopranpartien mit zartleuchtend silbrigem Timbre, Dorottya Lángs fein geführter Alt hatte eine schöne sinnlich schimmernde Höhe.
Das Publikum applaudierte nach drei pausenlosen Stunden in der ziemlich aufgeheizten Halle nicht unbedingt ausdauernd, aber freundlich. Insofern dürfen die Verantwortlichen ihre Kooperation zwischen Staatsoper und Deichtorhallen, die zudem das Hamburger Musikfest 2016 eröffnete, als Erfolg werten. Es war ein Event, die Reihen waren gespickt mit Prominenz der Theater- und anderer Szenen. Aber wenn es wirklich noch Sinn machen soll, jenes Ereignis damals, vor 2016 Jahren, jenseits christlicher Rituale auf seine Gegenwartsbedeutung hin zu befragen – dann müsste schon mehr dabei herauskommen als ein Event.