Foto: Szene mit Annika Gerhards, Bernd Könnes, Gabriel Urrutia und dem Chor © Rolf K. Wegst
Text:Wilhelm Roth, am 12. Mai 2017
Georg Rootering inszeniert Schnittkes „Leben mit einem Idioten“ in Gießen.
Der russische Komponist Alfred Schnittke ist immer noch ein Geheimtipp. Das Stadttheater Gießen erweist sich nun mit der Aufführung seiner Oper „Leben mit einem Idioten“, 24 Jahre nach der ersten und bisher einzigen deutschen Inszenierung, wieder einmal als Schatzgräber. Schnittke ist 1934 in der wolgadeutschen Russischen Republik geboren, er starb 1998 in Hamburg – ein Emigrantenschicksal. Sein Vater, Journalist von Beruf, war ein aus Frankfurt am Main stammender Jude, seine Mutter eine Wolgadeutsche. Schnittke hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, drei Opern, acht Sinfonien, viel Orchester- und Kammermusik. Gidon Kremer spielt ihn gerne. In der Sowjetunion wurde er kaum aufgeführt, er lebte von der Komposition von Filmmusik, die weniger der Zensur unterworfen war. Er schrieb die Musik zu gut 70 Filmen. In der Perestroika-Zeit konnte er schließlich in den Westen ziehen, von 1990 bis zu seinem Tod wohnte er in Hamburg. Trotz mehrerer Schlaganfälle entstanden dort viele seiner großen Werke, auch „Leben mit einem Idioten“.
Die Oper wurde 1992 in Amsterdam uraufgeführt, dirigiert von Mstislaw Rostropowitsch. Die Kritiken berichten von einem sensationellen Erfolg. Die deutsche Erstaufführung war 1993 in Wuppertal. „Leben mit einem Idioten“ ist ein Horrortrip durch menschliche Leidenschaften und Phantasien aller Art, sie stehen auch für das mörderische Unterdrückungs-System der Sowjetunion. Der Idiot heißt nicht zufällig Wowa, wie Lenin mit seinem Spitznamen. Das Libretto stammt von Viktor Jerofejew, der genau wusste, worüber er schrieb. Für die effektvolle Musik holte sich Schnittke Anregungen, woher er sie kriegen konnte. Ganz unterschiedliche musikalische Stile knallen aufeinander. Im Fachjargon hat sich für diese musikalische Technik der Begriff Polystilistik durchgesetzt.
Wenn sich der Vorhang in Gießen hebt, ein leicht verzerrter weißer Stern, der sich allmählich rötlich färbt, ist dahinter die Wohnung eines russischen Schriftstellers ohne Namen zu sehen. Er heißt einfach „Ich“, Gegenspieler ist Wowa, der Idiot. Zwischen beiden steht Ichs Frau. Ich ist wegen mangelnden Mitleids verurteilt worden (von wem, erfährt man nicht), einen Idioten bei sich aufzunehmen. Im Irrenhaus entscheidet er sich für Wowa, der nicht spricht, einen friedlichen Eindruck macht. Allmählich aber übernimmt er das Regiment in der Familie. Er frisst den Kühlschrank leer und scheißt die Wohnung voll (man kann es nicht dezenter sagen, aber es wird dezent nur darüber gesprochen). Er macht sich an die Frau heran, die ein Kind von ihm bekommt, das sie abtreibt. Wowa bringt sie deswegen um, spielt auf der Bühne mit ihrem Kopf, während sie nach wie vor lebendig herumläuft. Wowas nächstes Opfer seiner sexuellen Begierde ist der Mann, der allmählich alle Kontrolle über sich verliert. Nun kommt er ins Irrenhaus, ist der nächste Idiot.
Aber so folgerichtig wie hier erzählt, ist die Handlung nicht, es gibt Sprünge hin und her und eine witzige Nebenfigur. Als Ich, ein großer Verehrer von Marcel Proust, erleben muss, wie Wowa seine wertvolle Bibliothek in Fetzen reißt, darunter den geliebten Proust, taucht der Dichter selbst auf, ein elegant gekleideter etwas dicklicher Herr, der aber Wowa in seiner Zerstörungswut auch nicht stoppen kann. Die drei Hauptpersonen, glänzend dargestellt von Gabriel Urrutia (Ich), Annika Gerhards (Frau) und Bernd Könnes (Wowa) werden szenisch und musikalisch vom Chor begleitet. Georg Rootering (Regie) und Lukas Noll (Bühne und Kostüme) hatten den treffenden Einfall, alle Chormitglieder, Männer und Frauen, einen Rollator benutzen zu lassen, ein dezent komischer Hinweis, wie altersschwach diese Welt ist, in der diese groteske Geschichte spielt. Zudem haben die Chorsänger auf ihrem Gefährt ein Pult mit den Noten, eine wichtige Hilfe für die schwierige Musik.
Der noch junge Dirigent Martin Spahr führt souverän durch die sprunghafte polystilistische Partitur. Einige Motive tauchen aber deutlich, manchmal nur für wenige Takte, aus dem Musikstrom auf, ein Tango, der gut ins Ohr geht, die Internationale oder das russische Volkslied „Auf dem Felde stand ein Birke“ (das erkennt man aber als Nichtrusse nur dank des Programmhefts).
Eine finstere Geschichte, die Schnittke und sein Librettist Jerofejew erzählen (gespielt wird eine deutsche Übersetzung von Jörg Morgener und Beate Rausch). Musik, Text und Regie aber geben der Erzählung manchmal einen schwarzen Humor, reizen sogar zum Lachen. Trotzdem, die Grundbotschaft ist tiefer Pessimismus. Der misshandelte Ich wird als Idiot nun zum neuen Unterdrücker. Das wird zwar nicht ausdrücklich gezeigt, liegt aber in der Konsequenz der Geschichte. Der Kreislauf im Nichts lässt sich kaum unterbrechen. Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Werk so selten aufgeführt wird.