Foto: Tänzer Daniel Conant in "Tanzanweisungen" © Wilfried Hösel
Text:Vesna Mlakar, am 9. Juni 2020
Ein Tänzer – fast wieder zum Greifen nah und physisch mit dem Publikum am Aufführungsort zu einer Einheit auf Zeit verbunden. Genau das macht Theater als Erlebnis aus. Seit Monaten ist aber alles anders. Dennoch hat die künstlerische Aufarbeitung des Corona-Shutdowns bereits begonnen, wenn sich wenige mundschutzmaskierte Zuschauer als rezipierender Teil von Lockerungsformaten und Inszenierungen an sonst Gästen unzugänglichen Orten einfinden. Die Show beginnt schon beim Einlass- und Platzierungsprozedere – angesichts der bayerisch-ministerial auferlegten Umstandskrämerei.
Die Programme sind mit heißer Nadel gestrickt. Keinem Künstler bleiben viel mehr als sieben oder acht Tage Zeit, um seine Ideen – Proben eingeschlossen – vorstellungsreif umzusetzen. Organisatorisch übersteigt der Aufwand jedes frühere Maß. Dass er sich unbedingt lohnt, zeigt nicht nur das respektvolle Miteinander von Besuchern und meist gleichstark aufgestelltem Personal. Dem Ganzen wohnt Signalkraft inne. Zu den sogenannten „Freien Sonntagen“ – der jüngsten „Überbrückungsreihe“ der Bayerischen Staatsoper für den Monat Juni – reichen sich staatliche Institution und freie Szene für erste kurze Live-Produktionen die Hand.
Der freie Choreograph Moritz Ostruschnjak bestätigt den derzeitigen kreativen Schwebezustand: „Im Augenblick ist alles sehr improvisiert und last minute – so war das auch hier. Als die Dramaturgin bei mir anfragte, standen weder Datum noch Budget und nicht einmal der genaue Rahmen dessen fest, was überhaupt möglich sei. Das endgültige Go bekam ich erst eineinhalb Wochen vor dem Aufführungstermin am 7. Juni.“ Die Vorboten der Krise erlebte Ostruschnjak hautnah mit während der Tanzplattform Deutschland in München Anfang März, für die sein Stück „Unstern“ von 2018 ausgewählt worden war. Kurz darauf wurde seine geplante Neukreation für das Saarländische Staatstheater abgesagt. Weitere Projekte bis zum Februar 2021 sind ihm seither weggebrochen.
Kalt erwischt hat Ostruschnjak der Staatsopernauftrag trotzdem nicht. Länger schon hat er sich mit „Man in a room“ beschäftigt – einem kleinen Heftchen des Konzeptkünstlers David Shrigley, der für ein oft karikaturhaftes, gleichzeitiges Bespielen verschiedener Bedeutungsebenen steht. Eine Grundlage, auf der Perfomance-Kunst tolle Blüten treiben kann. Augenzwinkernd drastisch. Unter Ausnahmebedingungen. Und sich dabei der brisanten aktuellen Lage bewusst. Moritz Ostruschnjak macht all dies in seiner Uraufführung „Tanzanweisungen“ körperlich (nach)fühlbar.
Seit Beginn des Theaterstillstands sammelt die Bayerische Staatsoper Spenden für freischaffende Kollegen. Am ersten „Freien Sonntag“ sitzt man nun höchstpersönlich am Austragungsort der weiterhin bloß digital ausgestrahlten Montagskonzerte. Spürt vor sich – mitten unterm Bühnenhimmel des formatrührigen Bühnenflaggschiffs – die Ausmaße des verwaisten Zuschauerraums. Eingetaucht in das leise Sirren von Technik und Beleuchtungsmaschinerie schimmern einem von den anfangs noch in Dunkelheit gehüllten Rängen die Fluchtwegleuchten wie winzige, weit entfernte Sterne entgegen. Dumpf läuten die gewohnten Klingelzeichen den Beginn der Vorstellung ein. Im Blickfeld zwischen prunkvollem Sesselpanorama und sechs Stuhlreihen für je neun Zuschauer erhebt sich ein Podest: vier mal acht Meter. Das Plateau von Neonröhren umgrenzt. Für 30 derzeit abendfüllende Minuten der allein einem Interpreten zugewiesene Raum.
Die Vorgaben und Beschränkungen, so Ostruschnjak, hätten auch etwas Befreiendes. „Nicht unter normalen Produktionsbedingungen zu arbeiten, das macht auch was mit einem. Man kann weniger analysieren, muss schneller und intuitiver vorgehen, um so einfach und unkompliziert wie möglich etwas Gutes hinzubekommen.“ Als erster freier Gast nahm es der Münchner Choreograph laut eigener Aussage locker, innerhalb einer Woche ein inhaltlich pandemieinspiriertes Solo auf die Beine zu stellen. An den Tänzer Daniel Conant, den man – einmal in Bewegung – am ehesten mit einer Granate vergleichen kann, hatte er für die choreographische Verlinkung zu den cartoonhaften Zeichnungen des schottischen Künstlers Shrigley schon vor der Einladung gedacht.
Klein und zierlich von Statur lässt der Kanadier, der für das Projekt eigens aus Berlin nach München gereist ist, die Post richtig abgehen. Sein Körper zündet wie Dynamit in einem stilistischen Cross-Over geballter Sportivität. Die goldene Fassung der im Licht leuchtenden Stuckverzierungen an den Logen vermag nichts besser zu konterkarieren als diese Verpackung in weiße Socken, Turnschuhe, knielange rote Sporthose, graues Käppi und ein schlabberig-gelbes Shirt.
Flankiert von zwei Scheinwerfern (Licht: Benedikt Zehm), die unsere Augen kurz blenden, betritt er die Tanzfläche und legt los – erst mal im Schuhplattler-Modus. Ganz ohne Sound. Sein Beinklatschen, Aufstampfen, Trippeln und Atmen geben den Rhythmus vor und machen Laute zuhauf. Je intensiver Conant hüpft und springt, desto merklicher überträgt sich sein Tun in Schwingungen, die Podest- und Bühnenboden wahrnehmbar aufs Publikum übertragen.
Was man sieht, ist ein Feuerwerk aus Steps, Turns und Kicks. Ein Schild wird vom Choreographen vorbeigetragen. Die Message darauf lautet: „I won‘t be like this forever.“ Dennoch geht der wilde Tanz weiter – mal aufputscht, mal eingefallen zerknirscht. Boxende Arme, signalhafte Finger, sexy Hüften und Faustschläge gegen Herz und Stirn. Dazwischen immer wieder grazil ballettöse Einsprengsel. Schmusekursmomente für die Location.
Zur Halbzeit dann untermalt doch noch Musik den schweißtreibenden, Selbstmitleid nicht ausklammernden Trott. Performer – stets in seiner Rolle als dahinskizzierte Figur – und Publikum werden emotional weichgespült. Und „Hello darkness, my old friend“ von Simon&Garfunkel bekommt plötzlich einen verdrehten Sinn. Einige Minuten Durchschnaufpause gönnt sich Conant lässig abhängend über dem Satz, dass wir bald über all das gar nicht mehr nachdenken werden. Momentan nichts, was wirklich beruhigt. Also knallt kurz noch Strawinskys „Sacre“ aus den Boxen.
Unverschämter, genialer Rausschmeißer: Heinz Rudolf Kunzes „Der Mussolini“-Song. Harmlos der Textanfang „Geh‘ in die Knie/Und klatsch‘ in die Hände/Beweg’ deine Hüften“. Eine Aufforderung, die dem Bewegungsvokabular des Tänzers als Kommunikationsinstrument nochmals eine neue Wendung verleiht. Grenzenlose Beinfreiheit genießen hier alle. Sogar die Arme könnte man problemlos in alle Richtungen mitschwingen lassen. Tut aber niemand. Nur Daniel Conant verausgabt sich weiter. Wie ein Mensch gewordener Gummiball mit ab und zu schlaffer Schlagseite. Egal, ob er Energie durch imaginiertes Seilhüpfen oder Gewehrsalvenabfeuern verbrennt. Fazit: Ostruschnjaks „Tanzanweisungen“ sind ein Gelegenheitsstück, aber keinesfalls Kompromisstheater!