Familienszene mit Barkeeper: (v.l.n.r.) Hedwig Ritter, Lorin Wey, Roberto Junior, Orsolya Ercsény und Frank Dolphin Wong im Foyer der Rudolf-Oetker-Halle

Kraftvolles Plakat

Sebastian Molina Villarroel, Andrei Petrache, Robert Lehmeier: Der Besucher

Theater:Theater Bielefeld, Premiere:28.04.2022 (UA)Musikalische Leitung:Anne Hinrichsen

Opern sind plakativ. Immer gewesen. Im Zentrum stehen große Leidenschaften und klare, nie zu differenzierte, nicht selten monströse Haltungen. Das gilt vielleicht nicht für Mozarts große Schöpfungen, für Hofmannsthals Libretti, für Boitos Shakespeare-Bearbeitungen und für zwei Hände voll gelungene Symbiosen aus Text und Musik von Monteverdi bis heute. Aber der frühe und mittlere Verdi mit seinen ewigen Bariton-Plottern und passiven Sopranen? Wagner mit seinen Weltverbesserungs- und Erlösungsfantasien? Selbst Berg mit „Wozzeck“ und „Lulu“, der geschundenen Kreatur am Boden einer durch und durch hierarchischen Gesellschaft und das ewig lockende Weib als von den Kerlen unreflektiert vernutzte Projektion? Plakate allesamt!

In diesem Sinne ist „Der Besucher“ eine Oper reinsten Wassers. Robert Lehmeier, in Personaleinheit Librettist und Regisseur, türmt in seinem Text Klischees aufeinander wie einst Caspar David Friedrich in seinem berühmten Gemälde Eisschollen – und hat doch erlebbar etwas zu sagen zu den komplexen Problemen unserer Zeit.

Im Foyer der Rudolf-Oetker-Halle stehen zwei künstlich erleuchtete Weihnachtsbäume. Das Publikum sitzt auf einer eigens errichteten Tribüne, an Stehtischen an den Seiten und vor der gewaltigen, repräsentativen Bar. In einer Ecke sitzt das kleine Orchester. In der Mitte hat Marie-Luise Otto mit prägnanten, die Gegebenheiten des Raumes nutzenden Mitteln die Spielfläche ausgestattet.

Foyer im Foyer

Ort und Spielort verschwimmen miteinander. Das weihnachtliche Konzert hat begonnen. Die Garderobiere löst ein Kreuzworträtsel und beginnt dann mit dem Barkeeper, zur aus dem Saal schallenden Musik zu tanzen. Eine Familie kommt zu spät: Vater, Mutter, Tochter, Schwiegersohn in spe. Die Eltern sind erfolgreich, er Professor, sie gewesene Stewardess, sind gebildet, haben die Welt gesehen, klassische Beautiful People. „Euch gehört die Zukunft, uns die Welt“, tönen sie selbstgewiss. Die jungen Leute haben dem nicht viel entgegenzusetzen. Ein weiterer junger Mann kommt, PoC, einfach gekleidet mit einer Reisetasche. Seine stumme Anwesenheit wird umgehend zum Katalysator der familiären Beziehungsprobleme. Die Eltern geben sich freundlich indifferent, fühlen sich aber spürbar unwohl, der Verlobte wird sehr schnell aggressiv, die Tochter will pathetisch Mitgefühl äußern, indem sie den Neuankömmling auf den Mund küsst, er stößt sie zurück. Mehrfach kommt ein Frauenchor in plakativen Kostümen und fasst in Plattitüden die extremen Haltungen zusammen. Eine Polizeidurchsage tönt von einer Gefahrenlage. Der Vater beginnt zu reflektieren, sich selbst in Frage zu stellen; die Mutter träumt von fernen Ländern; der Verlobte äußert sich zunehmend rassistisch und rechtsaußen-konservativ; die Mutter spricht daraufhin von „Nazi“, die Tochter von „Scheiß-Polacke“. Schließlich die Auflösung: Der namenlose Besucher hatte eine kurze Liebesbeziehung mit dem Barkeeper, hat sich verliebt und ist ihm nachgereist, hat „ein Boot genommen“. PoC, Flüchtling, schwul. Alles endet mit einem Chorloblied auf die Liebe an sich.

Was für ein Entwurf! Kann man das ertragen? Tatsächlich kommen die teils disparaten, oft absoluten Haltungen trotz des Klischee-Waldes, aus dem sie hervorgehen, bekannt, geläufig, lebensecht daher. Was wiederum damit zu tun hat, dass es Robert Lehmeier und dem vorzüglichen Ensemble gelingt, aus all den Oberflächenreizen Figuren zu entwickeln, denen man begegnen kann. Dabei hilft das ungewöhnliche Raumkonzept. Und vor allem die Musik.

„Der Besucher“ ist die zweite von drei Kammeroper-Uraufführungen, die unter dem Label First Contact – Faszination Musiktheater laufen und durch das Programm Neue Wege des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert werden. Das Ziel der Projektreihe ist es, jungen Menschen die Oper, besonders aber das zeitgenössische Musiktheater nahezubringen. Der Kompositionsauftrag ging an Sebastian Molina Villarroel (für den ersten Teil bis zur Polizeidurchsage) und an Andrei Petrache, beide noch in der Ausbildung und unterstützt durch die renommierte Komponistin Cathy Milliken, die als eine Art Supervisorin fungierte.

Zwei Komponisten, ein Stück

Schon die ersten Takte nehmen gefangen: Ein paar deutlich kenntliche Noten aus „Schwanensee“ werden nach und nach verfremdet, bis wir uns in einem kammermusikalisch lichten Klangdschungel befinden, aus dem immer wieder kleine und kleinste Wunschkonzert-Partikel dringen. Die Führung der Singstimmen ist zwar recht konventionell, im Ensemblegesang aber erstaunlich ausgereift, transparent und doch mit dramatischem Ausdruck. Und die Chorpassagen von Molina Villarroel haben Witz. Petrache komponiert mehr vom Rhythmus her, im zweiten Teil klingt alles etwas schlanker, auch jazziger, die Counterstimmlage bei den Männerstimmen wird gerne eingesetzt und der Chor klingt ein wenig stumpfer. Der große Monolog des Besuchers am Schluss ist vor allem Erzählung. Erst durch die musikalische Überhöhung gewinnt sie künstlerische Gestalt. Wie es überhaupt ein großer Vorzug von „Der Besucher“ ist, dass man sich in keinem Moment fragt, warum hier gesungen und nicht gesprochen wird. Was wiederum auch und vor allem an der flüssigen und lebendigen musikalischen Leitung (und Einstudierung) durch Anne Hinrichsen liegt.

Einzige Sprechrolle ist hier die Garderobiere. Monika Mayer, von 1967 bis 2002 Ensemblemitglied in Bielefeld, wird durch große Präsenz und leisen, burschikosen Humor zu einer wesentlichen Konstante der Aufführung. July Zuma spielt den Besucher glaubwürdig und singt ihn technisch sehr sauber. Hedwig Ritter (Tochter), die aus dem Bielefelder Chor kommende Orsolya Erscényi (Mutter) und Lorin Wey (Schwiegersohn) überzeugen durch präzises Spiel und unverkrampftes Singen. Frank Dolphin Wong ist neben Sopran, Alt und Tenor der Bass-Bariton in diesem Familienquartett und wird, nicht nur wegen seines klangschönen Gesangs, zu dessen Mittelpunkt. Roberto Junior ergänzt elegant in der stummen Rolle des Barkeepers. Auch die acht Musikerinnen und Musiker der Bielefelder Philharmoniker und die Damen des Extrachores sind mit vollem Einsatz dabei und bewältigen die komplexe Musik auf hohem Niveau – und offenbar freudig.

„Der Besucher“ ist eine echte, repertoirefähige Oper geworden und sollte nachgespielt werden. Das Stück erscheint geeignet, einerseits junge Menschen durch ihre ästhetische Qualität an die Oper heranzuführen, andererseits – mit der nicht unbedingt nüchternen oder didaktischen Thematisierung von Rassismus, Fremdenangst und -hass, Toleranz und spätbürgerlicher Lebenslüge – Reizpunkte zu setzen, die danach schreien, in hoffentlich produktiven Diskussionen aufgearbeitet zu werden. Hier kann sich das Theater nicht nur als Bildungsbringer und Kulturschenker in die Stadtgesellschaft einbringen, sondern auch als Moderator und Vermittler in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Was vermutlich in den nächsten Jahren immer stärker ins Zentrum der Institution Stadttheater rücken wird.