Foto: Johanna (Annemarie Brüntjen) auf dem Scheiterhaufen im Foyer des Nationaltheaters © Natalia Mieczak
Text:Andreas Falentin, am 18. Juni 2021
„Was willst Du erzählen?“ Etwa in der Mitte der 110-minütigen Aufführung stellt der englische Feldherr Talbot der Titelheldin diese Frage, oder genauer: Der Schauspieler Matthias Breitenbach befragt in der Rolle eines Schauspielers die Schauspielerin Annemarie Brüntjen. Richtet man diese Frage an die Regisseurin Ewelina Marciniak und ihre Absichten mit Schillers romantischer Tragödie, ist die Antwort kurz: Alles!
Schillers Handlung soll erzählt werden und wird erzählt; es geht um Mythen, ihre Entstehung, ihre Manupulation und ihre Rezeption; es geht um Frauen-, besonders um Heldinnenbilder und die Frage, wie sehr diese von Männern geprägt sind und wie man sich davon frei machen kann; und es geht expliizit darum, was das Theater, was künstlerische Haltung hierzu beitragen kann. Und natürlich geht es, wie bei Schiller, um die ganze Welt – und um Klischees, vor denen man keine Angst haben soll und vor denen hier tatsächlich niemand Angst hat.
Marciniak und ihre Dramaturgin Joanna Bednarczyk, die für die Textfassung verantwortlich zeichnet, haben das Stück genau gelesen. Und sie haben eine Welt gefunden, die von heute betrachtet spannend und zugänglich ist. Dabei befolgen sie Schillers Handlungs- und Figurenstruktur mit einer Ausnahme: Der Herzog von Burgund ist gestrichen, jener wankelmütige Charismatiker den Schiller immer wieder als Nebelkerze zur Verhüllung seiner Dramaturgie einsetzt. Seine Abwesenheit entblösst, wie sehr dieses Stück, formal wie inhaltlich, bis in die kleinen Nebenrollen schlicht und explizit bauf Antagonismen, auf Gegensatzpaaren basiert: Johanna und ihr Vater, Karl und seine Mutter, Frankreich und England, Idealismus und Fatalismus, jung und alt, gut und böse, Mann und Frau… Das Regieteam fügt weitere Gegensätze hinzu, nämlich Vers und Prosa sowie Schauspieler und Rolle.
Schillers Blankverse werden großartig gearbeitet und belebt, klingen ganz frisch, sind nie pathetisch hohles Wortgeklingel. Wo sie aber für das Gewolte nicht ausreichen, wo der zeitliche Abstand zu groß geworden ist, wo durch diesen entstandene Akzentverschiebungen mit dem alten Text nicht ausgedrückt werden können, wo das Heute dem Damals gegenüber gestellt werden soll, haben Marciniak und Bednarek Prosa-Texte interpoliert. Das funktioniert oft wie eine Überblendung, dient dazu, Szenen und Schauplätze zu verzahnen, und korrespondiert unglaublich gut mit der Bildgestaltung, die intensiviert, auch mal ironisiert, aber nie verdoppelt. Dazu kommt das Aus-der-Rolle-treten, die Bespiegelung von Stoff und Themen jetzt und hier, das Aussteigen aus und wieder Einrasten in Schillers Dramatik. Wie das Ensemble hier – unmerklich, aber spürbar – immer wieder präzise und unaffektiert die Haltung wechselt, ist brillant und zieht eher ins Geschehen hinein als von ihm abzulenken.
Es ist wirklich viel Schiller zu erleben an diesem Abend in Mirek Kaczmareks Riesenraum mit dem monströsen Über-Eck-Sofa und der zentimerterniedrigen L-förmigen Wasserfläche. Die Energie des Spiels beeindruckt genauso wie die Geschlossenheit des Ensembles, dss zudem sehr klar artikuliert, sehr präzise spricht, sehr selten schreit.
Auch das Ende gelingt. „Gehörst Du zu den Heiligen und Reinen?“ fragt Vater Thibaut seine Tochter Johanna. Und alle schweigen. Gefühlt minutenlang. Dann stammelt Agnes irgendwas. Vassilissa Reznikoff versucht in der Rolle der Königs-Geliebten grundsätzlich immer alles, um sich und ihren Karl in der Wohlfühlzone zu halten und dort selbst nicht verloren zu gehen. Schnitt. Scheiterhaufen im Nationaltehaterfoyer. Publikum mit Masken umkreist ihn und fotografiert animiert. Was für ein Schluss!
Aber es geht noch einmal auf die Bühne. Das Ensemble tauscht sich über den Jeanne d’Arc-Mythos aus. Sophie Arbeiter, vorher eine raumgreifend junge Königsmutter Isabeau, spielt beeindruckend Geige. Johanna schweigt. Dann gehen alle und Annemarie Brüntjen beginnt mit ihrer „Selbstthematisierung“. Die Rolle will Mensch werden, die Schauspielerin will Mensch spielen. Unzufriedenheit wird artikuliert, historisches und gegenwärtiges Unrecht angeprangert, der Autor Schiller kritisiert. Und nebenbei ostentativ vieles erklärt, was wir in den 90 Minuten davor gesehen haben. Ragna Pitoll kommt, seit 2003 im Mannheimer Ensemble und in der Aufführung unter anderem Johannas Erscheinung, und mahnt Gelassenheit an, Zeit vergehen lassen, altern. Und erzählt Geschichten von einer jungen Frau, vielleicht von sich. Und beide liegen im Wasser.
Ich – Rezensenten haben ja keine explizite Subjektivität, aber das ist in diesem Moment wurscht – hätte diesen Nachklapp nicht gebraucht. Nicht, weil er nicht gut gemacht gewesen wäre, obwohl die Haltungen weniger klar waren als zuvor und durch kleine Textunsicherheiten der Ausdruck ein wenig verschwamm. Nein, ich will diese Erklärungen nicht, dieses Wegrennen aus dem Spiel in den Diskurs, hart gesagt: ins Geschwätz. Bis zum Scheiterhaufen hin wurde Theater gespielt! Auf sehr hohem Niveau, sehr klug und sehr originelle Weise. Es lief auf vielen geistigen wie sinnlichen Ebenen ein Drama ab, Diskurse wurden immer wieder angetippt und reicherten das Spiel an. Alles war ganz klar und wirklich geheimnisvoll. Die Stille vor Johannas Ende hat mich bewegt wie wenig in den letzten Jahren. Und es war ein Stream! Übrigens großartig gemacht von YANKI Film und dem Regisseur Przemyslaw Chojnacki, mit vielen kleinen Reizen extra für das Medium. Wie intensiv wird es erst live im Theater sein!
„Was willst Du erzählen?“ Vielleicht ist „Alles“ doch ein wenig zu viel, wenn man von allen, zumindest von möglichst vielen, verstanden werden will. Aber eine tolle Aufführung ist diese „Jungfrau“!