Foto: Peter Marsh (Peter Grimes, r.) mit Massimo Buonerba in der Dortmunder Inszenierung von Tilman Knabe. © Thomas M. Jauk / Stage Picture GmbH
Text:Jörn Florian Fuchs, am 11. April 2016
Inszenierungen von Tilman Knabe sind immer eine Herausforderung – sowohl für die Ausführenden auf der Bühne wie fürs Publikum. Seinen Protagonisten verlangt Knabe höchste Konzentration und vollen Körpereinsatz ab, die Zuschauer müssen sich mit Knabes meist schmerzhaft deutlicher Bildsprache auseinandersetzen. Manch einem wird es da zu drastisch, Abwanderungsbewegungen während der Aufführungen und heftige Anti-Reaktionen beim Applaus sind mitunter die Folge.
Bei Benjamins Brittens „Peter Grimes“ am Dortmunder Opernhaus gab es am Ende Tumulte, allerdings der vollkommen positiven Art, nämlich Jubel und stehende Ovationen. Und dies völlig zu recht, denn so packend und konzise hat man das Stück lange nicht, vielleicht noch nie erlebt. Tilman Knabe verlegt die Außenseitergeschichte um den Fischer Grimes, der seine Lehrjungen misshandelt und – vermutlich – missbraucht, in ein schmuddeliges Provinzkaff von heute, das bis ins kleinste Details hypernaturalistisch gezeichnet ist. Schwarze, längs- und querseitig verschiebbare Vorhänge fokussieren gelegentlich einzelne Figuren (vor allem Grimes), halten Situationen kurzzeitig, quasi schockgefrostet, fest. Die Dorfgemeinschaft besteht aus lauter kaputten Existenzen, Grimes‘ Vertraute Ellen Orford wirkt als einzige menschlich, einfühlsam, liebend. Nach einem langen Kuss zwischen ihr und Grimes dreht letzterer durch, ekelt sich vor ihr und vor sich selbst, prügelt später auf sie ein. Trotzdem hält sie zu ihm. Mehrfach fügt Knabe surrealistische Bilder in die sonst klar erzählte Handlung ein. So vergehen sich einige Dörfler selbst an einem toten Knaben, malträtieren die Leiche nachträglich mit Messern und Gabeln.
Ähnlich wie unlängst Christof Loy im Theater an der Wien zeigt Tilman Knabe Grimes als verkappten Homosexuellen, der seinen Drang nach (sehr jungem) Fleisch vergeblich zu bekämpfen versucht. Loy stellte der Titelfigur einen halbnackten Tänzer an die Seite, unterstellte Grimes‘ Vertrauten Balstrode ebenfalls schwule Neigungen und zeigte Ellen Orford als völlig unerotisches Wesen. Grimes geriet hier zur tragischen Figur, deren Schicksal von Anfang an klar war. Knabe hingegen zeigt das messerscharfe Psychogramm eines ständig mit sich und gegen die anderen kämpfenden Mannes, der mehr und mehr vom Rausch seiner dunklen Gefühle überwältigt wird und einen Jungen tatsächlich brutal abschlachtet. Peter Marsh beglaubigt das darstellerisch und vokal überragend, Emily Newton singt und spielt Ellen Orford mit unglaublicher Intensität und feinsten Nuancen. Stark sind auch Sangmin Lee als Balstrode, Fritz Steinbacher als sinistrer Fischer Boles, Hannes Brock als von sehr eigenen Dämonen verfolgter Pfarrer, Martina Dike als geiferndes, sich am Unglück ihrer Umgebung erregender Witwe Mrs. Sedley.
Gabriel Feltz entzündet am Pult der Dortmunder Philharmoniker ein Feuerwerk von Farben, besonders eindringlich geraten die instrumentalen Zwischenspiele, die Knabe auch als Seelenk(r)ämpfe etwa von Grimes versteht, ihn vor dem schwarzen Vorhang zuckend, elendig um Leib und Seelenheil ringen lässt. Annika Hallers tolle Bühne, Eva-Mareike Uhligs elegante Schmuddel-Couture, auch der von Manuel Pujol nahezu perfekt einstudierte Chor tragen zu diesem intensiven Abend bei – nicht weniger als ein Gesamtkunstwerk.