Foto: Psychotisch: Madrigalensemble der Trostlosigkeit © Ludwig Olah / Semperoper Dresden
Text:Roland H. Dippel, am 27. April 2019
Diese Kammeroper ist ein Extrem und unangreifbar. Schon deshalb, weil sie die erste autorisierte Vertonung eines Stücks der Dramatikerin Sarah Kane (1971-1999) ist, die sich kurz nach der Vollendung von „4.48 Psychosis“ das Leben nahm. Dazu stammt sie von einem schwulen Komponisten, dessen Konzept-Partituren auch Kommentare zu Genderbewegungen sind und der sich in der Traditionslinie der inzwischen dritten Generation der „angry young men“ nach John Osborne sieht. Philip Venables (geb. 1979) macht das für alle Geschlechter relevante Krankheitsbild qualvoller und zum Selbstmord führender Persönlichkeitsstörungen zu einem Frauenstück. Darüber legt er kurz vorm Schluss mit einer Paraphrase nach dem Agnus Dei aus Bachs h-moll-Messe noch eine metaphysische Kuppel.
Das ist ein so stark und üppig ausgestelltes Bekenntnis zum Gender-Mainstream, dass der Gedanke an eine sehr kalkulierte Karriereplanung naheliegt. Bei dieser zielsicher gewählten Quelle der 2016 an der Royal Opera London uraufgeführten Oper könnten szenische wie musikalische Defizite zu Störfaktoren werden, weil sie das Torturen-Potenzial der Partitur und ihres Plots noch mehr intensivieren. Doch der Erfolg dieser von der Ernst von Siemens Musikstiftung und der Stiftung Accento geförderten deutschsprachigen Erstaufführung, für die Venables seine Oper während der Proben einrichtete, darf nicht ausbleiben. Durch ein online verfügbares Videotagebuch und Texte ist der Entstehungsprozess von „4.48 Psychose“ noch präziser dokumentiert als stationäre Krankheitsprotokolle über Patienten, die an den hier dargestellten Persönlichkeitsstörungen leiden. Alles, was man hört und sieht, macht Sinn und damit auch alle in anderen Kontexten redundanten Konventionen heutiger Opernregie: Video (Benedikt Schulte), das kleine Kammerorchester hinter der vor den Zuschauern leicht abgesenkten und fast leeren Spielfläche, Verstärkung der Stimmen (Ton: Marko Junghanß, Anne Pammler).
Für Regisseur Tobias Heyder und seinen Ausstatter Stephan von Wedel ist Sarah Kanes Text ein Kult-Klassiker des späten 20. Jahrhunderts. Denn die kranken Emotionen werden nicht in ein gesellschaftliches Bezugssystem gesetzt, sondern atmosphärisch und assoziativ im hermetischen Psychoraum bespiegelt. Es kann also nichts mehr schiefgehen, weil brisante Reibungsflächen fehlen.
Die pietätvolle Erinnerung an die Biographie und den viel zu frühen Tod von Sarah Kane verleiht Venables‘ Kammeroper emotionale Schwingen, die sie über die Akkumulation ihrer zum Einsatz gebrachten Kunst- und Sachmittel weit hinausträgt. Damit ist Venables‘ „4.48 Psychose“ als ästhetisches Phänomen auf alle Fälle eine exponierte Stelle in den nächsten Musikgeschichten sicher. An der Spielstätte Semper Zwei gelingen zudem extrem anspruchsvolle Musiktheater-Werke wie „4.48 Psychose“ oder Madernas „Satyricon“ derzeit weitaus besser als Werke des heiteren Genres wie Offenbachs „Häuptling Abendwind“ oder Spolianskys „Alles Schwindel“ – ein beeindruckendes Qualitätsmerkmal. Alles in allem traumhafte Bedingungen, mit denen Intendant Peter Theiler die leicht schartigen Produktionen von „Die verkaufte Braut“ und „Platée“ im Großen Haus schnell vergessen machen kann.
„4.48“ ist kein administrativer Krankheitsschlüssel, sondern eine Uhrzeit: Um 4:48 Uhr lässt die Wirkung der Medikamente nach. Es bleiben (von der Komposition auf knappe 100 Minuten gedehnte) 72 Minuten, in denen die Figuren bis zur nächsten ihre psychischen Wirbelzustände eindämmenden Tablettenration den Erregungsexplosionen ihres Krankheitsbildes ausgeliefert sind: Affekte, Defizite, Traumata, Minderwertigkeitsgefühle, Angst, monströs anwachsende Erinnerungen und bleierne Hoffnungslosigkeit. Im Text von Sarah Kane sind es drei Frauen, bei Venables drei Soprane und drei Mezzosoprane: Die persönlichen Konturen verschwimmen im Gesang wie die Schwellen zwischen der diffusen Persönlichkeit und der nur verzerrt erlebbaren Außenwelt.
Die Neuerung von Venables‘ Partitur liegt aber nicht in den starken Anforderungen an die Stimmen, sondern in der amorphen Reihung der vokalen Texturen. Die Regie will, dass man die Interpretinnen in der Überflutung durch Mikroinformationen nicht allzu leicht unterscheiden soll: Sarah Maria Sun, Tahnee Niboro, Karen Bandelow, Grace Durham, Sarah Alexandra Hudarew und Carolin Löffler haben nur auf der Website Rollennamen, nicht aber auf dem Besetzungszettel. Sie sind ein wirkungsvoll und bis zum Schluss sensibel choreographiertes Madrigalensemble der Trostlosigkeit in etwas nachlässiger Kleidung. Diese macht den langen Krankheitszustand bildhaft. In Erinnerungsfetzen und dargestellten Psychotests wird schon einmal ein weißer Blazer zum Arztkittel. Leichte Jacken bedecken die Körper, deren Formen darin verschwinden wie die Stimmcharaktere in Venables‘ Vokalsatz: verlöschende Individualität. In der Musik und der szenischen Darstellung ist alles verifizierbar: Transparenz total! In Videos teilen sich dazu die Körper und wälzen sich ruhelos.
Venables‘ musikdramatischer Coup sitzt im Orchester als dialogisierendes Schlagzeugduo. Ulrich Grafe sägt, schlägt und trommelt den Part eines Doktors, auf der anderen Seite agiert Yuka Maruyamo als ‚Patient‘. Alles, was beide an Tönen produzieren, wird auf einer großen Projektionsfläche zu schriftlichen Dialogen und Textbändern: Percussion als Telegraph für Medikamentenanweisungen, innere Aufschreie und Entblößungen von Seelen mit Handicaps… Stimmen tönen auch aus der Leere. Tonkonserven und akute Tonproduktion gehen ineinander auf. Max Renne am Hauptpult und Jan Arvid Prée als Co-Dirigent koordinieren, sie halten das musikalische Hybrid-Geschehen beeindruckend sicher zusammen. Venables hat tatsächlich alles dafür aufgeboten, dass es keine Längen gibt. Das ist kalkuliertes Theater auf hohem Niveau. Und es zeigt vor allem, wie schwer es ist, emotionalen Mangelerscheinungen glaubhaften Ausdruck zu geben.