Foto: Lehrreiches Theater in Fürth: "Verrücktes Blut". © Hans Joachim Winkler
Text:Dieter Stoll, am 4. Oktober 2013
Eine Runde Klassen-Kampf unter Verlierern: Die überforderte Jung-Lehrerin, die zumindest für den Beginn des Unterrichts den Idealisten-Strahleblick noch aufgeladen hat, will ihren Schülern (sie haben Namen wie Latifa, Hakim und Hasan, also den gewissen „Migranten-Hintergrund“) deutsche Kultur beibringen. Beim Projekttag „Friedrich Schiller“ ist deren Sturm und Drang allerdings ganz anders orientiert, es wird gepöbelt und gerempelt, keiner will etwas wissen, alle sind hochtourig aufsässig. Im Handgemenge fällt einem der aggressiven Mädchen eine geladene Pistole aus der Tasche. Die Lehrerin überlegt nicht, sie greift zu und hält fortan die Meute in Schach, zwingt sie in frei interpretiertem Gewalt-Monopol zur schillernden Deutsch-Stunde – der Rest ist Pädagogik mit Knalleffekt.
Das Schauspiel „Verrücktes Blut“, vor drei Jahren sozusagen im Auge des Taifuns mitten in Kreuzberg entstanden und jetzt mit seinen Schöpfern vom Ballhaus Naunynstraße auf dem Weg zur Eroberung des Gorki-Theaters Unter den Linden, war als Beispiel von schnörkelloser Gegenwartsdramatik mit Alltags-Anschluss einfach sensationell. Die Frage blieb nur, und da mag man sich an ähnliche Zweifel bei einstigen GRIPS-Stücken erinnern, ob dieses Berliner Gewächs beliebig verpflanzbar ist. Das Fürther Stadttheater hat es in der fränkischen Provinz mit seinem Jungen Ensemble versucht und dabei sogar Selbstbewusstsein gegenüber dem Original entwickelt. Es funktioniert!
Regisseur Thomas Stang baute den als heimliche Metapher durchaus passenden ehemaligen Schlachthof im Kulturforum zur Turnhalle um, die zwischen zwei Publikums-Tribünen den Tatort Schule in nächster Nähe markiert. Die Schauspieler-Garderobe, von der alles ausgeht und in der das Drama auch endet, ist auf offener Bühne integriert. Alles Theater? Ja, natürlich! Acht junge Darsteller zeigen engagiertes Spiel im Spiel mit der Realität, wenn sie auf sinnlosen Nullbock-Floskeln reiten und in eine groteske Gegen-Reaktion gezwungen werden, wo die Rest-Hoffnung an einem absurd wohlmeinenden „Kopf hoch oder ich schieße“ hängt.
Die Fürther Inszenierung hantiert vorsichtiger mit den Migranten-Klischees als das Berliner Original. Das jugendliche Ensemble zeigt, indem es auf Schuld- und Spaßzuweisung nach Nationalität verzichtet, Bildungskatastrophe ohne Wenn und Aber. Die mangelhafte Sprachkompetenz, wie sie hier in der Güterabwägung zwischen Handy und Gedankenfreiheit vernuschelt wird, lässt komödiantische Funken fliegen. Wenn die Lehrerin (Mona Latendin) ihre Klasse zu phonetischen Übungen mit Zungenbrechern wie „ästhetische Erziehung“ zwingt und die kollektiven Zischlaute mit der Pistole im Anschlag durch Liegestütz und Bocksprung ergänzen lässt, mag der Theaterfreund an Professor Higgins und Einar Schleef gleichzeitig denken.
Es ist kaum zu übersehen, dass beiläufig auch einige Schwächen des Stückes enthüllt werden. So ganz vorbehaltlos mag man der Ruckzuck-Dramaturgie beim Sinneswandel an beiden Fronten nicht mehr folgen und die Auseinandersetzung mit der Kopftuch-Ideologie wirkte – da hat der Zeitgeist Spuren verwischt – vermutlich vor drei Jahren eindeutiger herausfordernd als heute. Thomas Stangs bedächtig komödiantische, eher ernsthaft als übermütig ansetzende Inszenierung verkleistert solche Irritation nicht, sie umschließt die schrillen Aggressionen samt ihrer zugespitzen Logik sehr gefühlvoll mit abhebenden Traum-Sequenzen im Disco-Nirwana. Vielleicht wollen sie ja doch alle nur spielen – also spielend ein Leben beherrschen, das sie überfordert. Die Bildungsreform, das zeigt die mit viel Beifall aufgenommene Aufführung, sollte sich doch lieber mit Visionen bewaffnen.