Foto: „Episode 31“ von Alexander Ekman. Tänzer/innen des Balletts Chemnitz © Nasser Hashemi
Text:Roland H. Dippel, am 13. Oktober 2018
„Nordlicht“ ist einer der kürzesten abendfüllenden Ballettabende seit langem, der Titel bezieht sich auf die mittel- und nordeuropäische Herkunft der Choreographen. Subtrahiert man die Vorführung des mit dem Ballett Chemnitz für das dritte Stück „Episode31“ eigens gedrehten Films, liegt die pure Spieldauer der beiden Leichtgewicht-Remakes und der Uraufführung von Katarzyna Kozielska unter einer Stunde.
Katarzyna Kozielskas „Unleash“ („Entfesseln“) ist wörtlich und metaphorisch gemeint. Die von der Fachzeitschrift „tanz“ als „Bemerkenswerte Nachwuchs-Choreographin“ genannte Polin unterfüttert Songs und Sounds von David T. Little, Todd Reynolds und Bobby Krlic mit konzentrierten Emotionen. Von fünf Paaren, die mit langen Leinen an zwei tief abgesenkte Züge gebunden sind, sich verheddern und kunstvoll voneinander lösen, bleibt am Ende eine Frau allein auf der schwarzen Bühne. Ob das tatsächlich eine „Befreiung“ von „Begrenzung“ ist, kann auch bezweifelt werden. Die asymmetrischen Bewegungsfolgen der Tänzer in Ines Aldas schwarzen Edeltrikots mit Silberflächen haben ein erkennbares und detailliert durchdachtes Formgerüst: Die gewonnene Freiheit markiert zugleich den Aufbruch in die mehr oder weniger selbst gewählte Einsamkeit. In diesem Prolog, der dem Tanz zum einzigen Mal an diesem Abend eine ansatzweise zielgerichtete Funktion zuspricht, kann sich die Kompanie noch nicht ganz aus der neoklassischen Strenge lösen. Das ändert sich in den folgenden Stücken: Auf Konzept folgt Comedy im Doppelpack.
Die beiden schon von mehreren Ensembles übernommenen Werke der international etablierten Choreographen holte sich Ballettdirektorin Sabrina Sadowska nach Inspirationen durch die sächsischen Großstadtnachbarn Leipzig und Dresden. Marco Goecke, ab 2019/20 Ballettdirektor an der Staatsoper Hannover, kreierte 2005 seine witzige Paraphrase „Suite Suite Suite“ auf Johann Sebastian Bachs Orchestersuite Nr. 4 G-Dur für das Leipziger Ballett. Lässig oder schnell ausgesprochen klingt sein Titel wie „Vite, vite, vite“ („Schnell, schnell, schnell“). Dieser akzentuierte Doppelsinn passt zu Mario Goeckes verflixt blitzartiger Choreographie, die bei synkopischen Unterbrechungen der Musik und schroff gesetzten Generalpausen tänzerische Hochpräzision in Millisekunden erfordert und inszenierte Körperfunktionen von Schnalzen bis Atmen aneinander reiht. Artifiziell, brillant, durchdacht – das Stück hat nichts von seinem Reiz verloren. Das Herren-Septett um das noch rasanter geforderte Solopaar Nela Mrázová und Emilijus Milauskas in saftig dunkelroten Samtanzügen demonstriert schon am Beginn hinter dem nur bis Kniehöhe hochgefahrenen Zwischenvorhang souveräne Beinarbeit. Fragmentierte Mikrobewegungen wenden Festlichkeit in Slapstick und steigern trockenen Witz zur intelligenten Clownerie. Nicole Kohlmanns Einstudierung fängt sogar ein, dass sich Marco Goecke hier selbst nicht so ernst genommen hat oder seinen Ernst hinter der die letzten Tänzer-Reserven herausfordernden Artistik verbirgt.
Was wäre, wenn ein Hamlet-Darsteller vor seinen Monologen oder eine Sängerin vor den Arien der Königin der Nacht aus der Rolle treten, den Zuschauern die Wahl der eigenen künstlerischen Mittel erläutern und dann noch nachschießen würden, wie toll das ist? Alexander Ekman, der 2016 für „Cow“ an der Semperoper Dresden den Theaterpreis DER FAUST erhielt, macht das in „Episode 31“ zum guten Ton. Fairerweise sei ergänzt, dass der Choreograph und der als Leiter dieser Neueinstudierung lebhaft gefeierte Fernando Troya gegen Ende immer mehr und kräftiger Ironie streuen. Indes einige Tänzerinnen mit künstlichen Schnurrbärten promenieren und man ein Schild mit dem Hinweis „Beautiful“ hochreißt, ertönt, wie alles an diesem Abend aus der Anlage, mit Gymnopédie Nr. 1 von Erik Satie dazu ein unverwüstlicher Ballettmusik-Klassiker… Das Video von artgenossen.de zeigt die im wolkenlosen Sonnenschein durch urbane Räume und Trambahnen pulsierende Chemnitzer Ballett-Kompanie. Dazu beteuern Stimmen der Tänzer aus dem Off große Leidenschaft für ihre Profession und im Wechsel Passanten ihre große Lust darauf, das erleben zu dürfen. So eine fröhliche Selbstoffenbarung taugt sicher für Jahre als attraktiver Imagetrailer. Das Bewegungsmaterial im Film sieht man gleich darauf in zeitlicher Dehnung, mit kräftigen Zäsuren durch Licht und Vorhang. Unmissverständlich signalisiert dieser „reale“ zweite Teil von „Episode31“, dass der Bühnenraum für die kräftigen Sprünge und vielen ausgebreiteten Arme eigentlich zu eng, keine echte Alternative zu den Filmschauplätzen sein darf. Auch für diese Spielerei in Luke Simcocks sportiv-eleganten Kostümen gab es jubelnden Applaus.
Das Publikum zeigte sich bestens amüsiert an einem Abend, bei dem Marco Goeckes Witz und Alexander Ekmans gefälliges Konstrukt das getanzte Nachdenken Katarzyna Kozielskas flockig in die Ecke stellen. Für den fast abendfüllenden Ballettabend „Nordlicht“ ist das nicht „twilight“, sondern „too light“.