Foto: Bei Lilias Pastia. Elizabeth Reiter (Mercedes), Paula Murrihy (Carmen, M.) und Kateryna Kasper (Frasquita) erfinden mit sechs Tänzern Bizets berühmte Kneipe im leeren Raum. © Monika Rittershaus
Text:Andreas Falentin, am 6. Juni 2016
„Sie ist.“ So beschreibt der Dirigent Constantinos Carydis im Programmheft der Frankfurter Aufführung die Titelfigur. Die zwei Worte könnten auch der Ausgangspunkt für den Zugriff von Barrie Kosky sein. Weder auf der Szene noch in der Musik gibt es irgendetwas Spanisches, es sei denn als ironischen Reflex. Carydis und Kosky nähern sich dem Repertoirerenner mit Understatement und Energie. Carydis verzichtet dabei nicht auf die Überwältigungsgeste, etwa bei der ansatzlos ins Publikum geschossenen Ouverture, betont aber das lyrische und vor allem das rhetorische Element der Partitur, formuliert in dieser neuen, „Frankfurter Fassung“, die ein wenig bisher weitgehend ungehörte Musik enthält, die Wort-Ton-Beziehung mit Chor, Orchester und Solisten kleinteilig aus, vermeidet vor allem Pathos aller Art, lässt die Musik lieber sinnlich funkeln, oft geradezu tanzen. Da klingt vieles entspannt, nach Chanson und Couplet, und gerade deshalb dringlich.
Auch hier trifft sich der Dirigent mit dem Regisseur, der sechs Tänzer als durchgehendes bildnerisches Element verwendet. Kathrin Lea Tag hat eine große Treppe entworfen, die wie die schwarz-weißen, fast geisterhaften Kostüme des wie um sein Leben spielenden und singenden Chors, wie viele hell geschminkte Gesichter und Haartrachten auf den Expressionismus zurückweisen, wobei es Kosky spürbar nicht um Überzeichnung geht, sondern um Konzentration, Phantasie und Energie. Wie radikal wirkt es, die Kneipe von Lilias Pastia quasi im leeren Raum zu verorten! Zu Beginn des zweiten Aktes verzaubern die drei Sängerinnen und sechs Tänzer Werk und Publikum mit einer perfekt ausgeführten, so eleganten wie spontan wirkenden Choreographie, mit der sie die von Bizet komponierte, lebenspralle Atmosphäre vor den staunenden Zuschauer hinstellen und ohne jeden Anflug von Illustration erlebbar machen.
Koskys Inszenierung erweist sich als Perlenkette derartiger Höhepunkte, zusammen gehalten durch die suggestive Stimme der Schauspielerin Claude de Demo, die, vom Band kommend, mit Texten aus Libretto und Romanvorlage die ewige Frage überflüssig macht, ob man nun Dialoge oder Rezitative verwenden soll. Unterstützt von den Choreographien Otto Pichlers und der herausragenden Lichtgestaltung von Joachim Klein, erzielt Kosky eine fast ekstatische, dramatische Sogwirkung, ohne je die Grenzen des guten Geschmacks auch nur zu streifen. Immer wieder rauscht Erotik auf, elektrisieren die Beziehungen zwischen den handelnden Personen das Publikum. Die Figuren wirken mit leichter Hand und doch sehr genau entwickelt und gewinnen außergewöhnliche Plastizität. Frasquita und Mercedes baden in Gestalt von Kateryna Kasper und Elizabeth Reiter geradezu in Spiellust, Lebens- und Sangesfreude. Das tut auch Daniel Schmutzhard, ein feiner lyrischen Sänger, der Escamillo mit großer Eleganz und rosa Strümpfen zum charmanten Luftikus geradezu ziseliert. Mit ähnlichen stimmlichen Mitteln formt Sebastian Geyer sowohl den Schmuggler Dancairo als auch den durch ein herrliches Couplet aufgewerteten Sergeanten Morales zu unvergesslichen Momentaufnahmen.
Don José wird verkörpert vom MET-erfahrenen Star-Tenor Joseph Calleja. Er hat nicht das Spieltalent, die bewundernswerte tänzerische Eleganz der anderen, wirkt durchaus ein wenig plump. Dennoch denunziert Kosky weder Sänger noch Figur. Er schenkt dem mit seiner Stimme kleine Wunder vollbringenden Tenor zu Anfang einen entspannten Moment vertrauter Zweisamkeit mit der glaubhaft innigen Micaela der Karin Vuong. Dann macht er beide liebevoll zu opernhaften Fremdkörpern in der tragischen Operette, zeigt ihr bäurisch-kleinbürgerliches Milieu ganz im Sinne von Libretto und Musik als abwesende Parallelwelt.
Bleibt Paula Murrihy in der Titelrolle. Schon in der Ouverture ist sie zu sehen, im rosa Granden-Outfit. In jedem Akt trägt sie ein anderes Kostüm, eine andere Persönlichkeit, kommt als androgyne Verführerin, Party-Girl, Salondame und schließlich als Todesvogel mit riesiger, die Treppe fast bedeckender schwarzer Schleppe. Und doch ist diese Carmen immer ganz bei sich. Sie spielt Theater für sich und für uns, spielt um ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung. Die Fesseln im ersten Akt sind ein schrecklicher Schmerz für sie, den sie aber schnell unterdrückt, um das Spiel wieder aufzunehmen und weiterzutreiben. Erst als sie sich wirklich verliert – und das ausgerechnet an den Tropf Escamillo –, ist sie verwundbar und verliert auch ihre Verführungs- und Überzeugungskraft. Diesen Moment formen Carydis und Kosky mit der Sängerin in geradezu unerhört konzentrierter Weise. Musikalisch gestaltet Paula Murrihy souverän mit leicht anspringendem, nie gedrücktem Mezzosopran und erfreut mit eigenständiger, gestischer, auch hier: fast tänzerischer Phrasierung. Von Don José ganz konventionell und doch erschreckend nieder gestochen, erhebt sie sich während der letzten Töne, zuckt die Achseln und grinst. Alles Theater eben. Aber was für Großartiges!