Ähnliches im Spiel der Figuren. Die Herren tragen Frack, behaupten so Bedeutung, Repräsentanz, Ego. Helene Alving, die Witwe des Monsters, das die Handlung dominiert, trägt ein eigentlich einfaches schwarzes Kleid, das Petra von der Beek aber phantastisch gut steht. Sie ist eindeutig das Zentrum des Abends, lässt immer mal wieder die konventionelle Schauspieldiva sehen, nur, um dann umso intensiver nackt vor uns zu stehen. Immer im schwarzen Kleid, versteht sich. Es ist wunderbar, diesem Ensemble beim Spielen zuzusehen. Niemand verliert sich im Text, niemand sucht künstlerische Hochgespanntheit oder realistische Scheinauthentizität. Man spielt mit Distanz und Empathie und hat den Text bis ins Kleinste durchgearbeitet, so dass er locker an der Oberfläche schwimmen kann.
Dabei bleibt naturgemäß die Weite von Ibsens Entwurf hier und da auf der Strecke. Klaus Herzog etwa ist als Pastor Manders zwar so schmerzhaft bigott, dass er fast entmenscht erscheint, aber die geradezu kindische Naivität der Figur, die vermutlich ein Grund ist, warum sich Helene so in ihn, in ihm verloren hat, muss man sich hinzudenken. Es sei denn, man möchte die vielen kleinen Fehler, die Herzog wie nebenbei in seinem Text versenkt, so elegant wie introvertiert, als ein Indiz dafür deuten. Dagegen ein reines Plakat: Steffen Reuber als Engstrand, mal großsprecherisch rau, mal lächelnd sachlich. Sein „Seemannsheim“, in dem seine Tochter Regine als Frontfrau dienen soll, zieht er hinter sich her wie Django seinen Sarg mit der Maschinenpistole drin. Regine, die Tochter, die keine Tochter ist, spielt Dagmar Geppert mit geradezu paradox wirkender Frische. Alles bei ihr wirkt klar, ungekünstelt – und wie sandgestrahlt. Sie hat versteckte Blumenmuster am weißen Kleid, trägt später auch mal kurz einen Blümchenrock, kommt mit einem Blumenstrauß erstmals auf die Bühne, arrangiert ständig Blumen. Diese Regine will offenbar gepflückt werden, und besonders gerne von Osvald, bis sie weiß, dass der ihr Halbbruder ist.
Diesen Sohn des Alving-Hauses spielt der fast 85-jährige Regisseur und Intendant Roberto Ciulli. Fein geht er mit seinem Text um, gleitet an einigen Stellen bewusst in die Schauspielerkonvention, trennt dann wieder Sprache und Körper und befreit so Ibsens Text. Dieser junge, alte Mann zieht sich gegen seinen Willen von der Welt zurück und kann deshalb kein Künstler mehr sein. Fordert, als letztes Mittel, Liebe ein, erst von Regine, dann von seiner Mutter. Wie leicht und leise, wie berührend zwingt Ciulli seine Figur in sich, in die völlige Introvertiertheit hinein.
Diese Mülheimer „Gespenster“ sind ein spröder, ein störrischer Theaterabend. Die Figuren greifen uns an, machen sich uns verständlich, gestatten uns aber kaum, sie zu mögen. Denn ihr Elend ist nicht nur auf die Schlechtigkeit des toten Herrn Alving zurückzuführen, der Osvald vernachlässigt, seine Frau betrogen, Regine mit dem Zimmermädchen gezeugt, Pastor Manders getäuscht hat, sondern auf ihren Egoismus, ihren Kleinmut, ihre Profitgier und ihre geistige Enge. Da wäre es gar nicht nötig gewesen, dass sich kurz vor Schluss der steinerne Engel, der sein Gesicht mit den Armen verhüllt, dreht, auf seinem Postament vor dem roten Vorhang. Oder das Mutter und Sohn Alving ein Trakl-Gedicht in Mikrophone zittern. Auch wenn es gut passt. Der Purismus, die Konzentration auf das Nötige, ist nämlich die eigentliche Stärke dieses Abends. Sie macht Ibsen zum Zeitgenossen.