Foto: Ensembleszene aus der Uraufführungsproduktion von "Abstract Pieces" an der Berliner Staatsoper © Thorsten Wulff
Text:Matthias Nöther, am 20. Mai 2018
Manos Tsangaris‘ neue Vergegenwärtigung des alten Orpheus-Stoffes überzeugt in der Neuen Werkstatt der Berliner Staatsoper durch atmosphärische Dichte und virtuose Handhabung der theatralischen Mittel
Eine der geglückteren Aktionen bei der unseligen siebenjährigen Sanierung der Staatsoper Unter den Linden und ihrer Nebengebäude ist die Renovierung der Probebühnen gewesen. Gewiss, gerade zu ihrer Funktion passte der vormalige abgerockte Zustand mit blätterndem Stuck ganz gut – aber nun strahlen die Räume in königlichem Weiß-Mintgrün, und wenn man technisches Gerät hineinfährt, dann wird dieses im schmucken pseudohistorischen Ambiente auch als technisches Gerät kenntlich. Normalerweise würde man sofort denken: Achtung, Probe. In dem neuen Stück „Abstract Pieces“ von Manos Tsangaris in der nunmehr so genannten Neuen Werkstatt wird alles Technische dagegen während der Aufführung möglichst nach außen gekehrt.
Dass hier die Geschichte von Orpheus und Eurydike erzählt wird und das sogar recht unkonventionell, ist sicher gar nicht das Wesentliche des Abends. Tsangaris braucht eine Geschichte, um „abstrakt“ werden zu können. Den Beziehungsstreit der beiden mythischen Figuren kann er unter die Spannung eines konsequent anti-illusionistischen Theaters stellen, in welchem jeder Taschenlampen-Lichtkegel, jedes Mikrofon zu einem integrativen Bestandteil des Kunstwerks wird.
An der konkreten Geschichte reibt sich fruchtbar das vorgeblich „technische“ Geschehen. Zu Beginn sitzt eine „Sie“ – Eurydike – in Gestalt der jungen Sopranistin Marielou Jacquard mitsamt zweier Musiker an jeweils einem kleinen Tisch, geräuschvoll hantierend mit Devotionalien der Orpheus-Sage, etwa einem kleinen Blasinstrument (spielte Orpheus aber nicht eigentlich Lyra?). „Sie“ spricht und singt jedoch nur eine Hälfte des Publikums an, während am gegenüberliegenden Rand der Bühne „Er“ (Bariton Martin Gerke) die andere Hälfte mit auf seinen Oberkörper projizierten Bildern unterhält. Spieler eines Synthesizers, einer Bassklarinette (Alexander Glücksmann), zweier Flügel (Jenny Kim und Alba Gentili-Tedeschi), einer Bratsche (Emily Yabe) und des Schlagwerks (Evdoxia Filippou) müssen hier wohl mit der Funktion von technischen Parametern wie Licht und Lautsprechern gleichgesetzt werden, sie mischen sich unter Leitung von Max Renne sparsam ins Geschehen ein. Nach der Pause wechselt das Publikum die Seiten, der gleiche Ablauf beginnt noch einmal – danach hat dann auch jeder gesehen, dass die Filmchen auf der Brust von „Ihm“ humoristisch das fiktive spießige Eheglück von Orpheus und Eurydike vorzeichnen, mit Eigenheim, Grill und rotem Auto. Abgesehen von solchen Gags wirkt das Ganze eher wie eine fest stehende Installation – und im Verlauf von knapp zwei Stunden soll beiden Hälften des Publikums die Gelegenheit gegeben werden, die komplette Anordnung zu betrachten und zu durchschauen, nichts soll niemandem verborgen bleiben.
Die anti-illusionistische Offenlegung und künstlerische Einbeziehung der Bühnentechnik ist im Musiktheater alles andere als neu, und doch beeindrucken die Dichte, Intensität und Vielfalt, mit denen Manos Tsangaris seine Mittel einsetzt. Er vermag spielend das Tempo zu erhöhen oder zu entschleunigen, indem er etwa Licht an- und ausschaltet, um den Raum fiktiv zu erweitern oder zu verengen, indem er Chöre aus dem Lautsprecher oder Gluck-Arien aus dem Kopfhörer erklingen lässt. Von einem solchen Virtuosen theatraler Mittel lässt man sich die Abstraktion gerne gefallen – wenn diese „Abstract Pieces“ mit den doch sehr konkreten Erinnerungen an den Orpheus-Mythos denn wirklich so abstrakt sind.