Foto: "Dionysos Stadt" an den Münchner Kammerspielen. Happy End? © Julian Baumann
Text:Anne Fritsch, am 7. Oktober 2018
Als Matthias Lilienthal vor einigen Monaten auf einer Pressekonferenz die Spielzeit der Münchner Kammerspiele 2018/19 vorstellte, hatte die CSU im Stadtrat gerade verkündet, seinen Intendanten-Vertrag nicht zu verlängern. Lilienthal sagte, natürlich könne man in so einer Situation etwas vorsichtig werden. Er ziehe es aber vor, etwas zu machen, „mit dem man so richtig auf die Nase fallen“ könne. Dieses „Etwas“ hatte nun Premiere: ein zehn Stunden langes Antikenprojekt von Christopher Rüping mit dem etwas sperrigen Titel „Dionysos Stadt“. Wenn er sich mit der Antike befasse, wolle er wirklich in diese Zeit und ihre Mythologie eintauchen, so Rüping. Also darf der Zuschauer sich ein wenig fühlen wie bei den „Dionysien“ im antiken Griechenland, wo drei Tragödien und zum Abschluss ein Satyrspiel gezeigt wurden.
Rüping spannt den ganz großen Bogen von den ersten Menschen bis zur Einführung einer Gerichtsbarkeit, verwebt Texte von Heiner Müller, Homer, Euripides, Sophokles, Seneca und Aischylos zu einem dichten Antiken-Geflecht. In einem Prolog bereitet Nils Kahnwald die Zuschauer vor auf das, was sie an diesem Tag erwartet. „Guten Mittag“, begrüßt er sie, es ist 13 Uhr an diesem Samstag. In den drei Pausen würde er einen Gang zur Toilette empfehlen und etwas zu essen. Der Alkohol war bei den Dionysien kostenlos, das ist hier leider nicht der Fall. Dafür gibt es eine Raucherbank auf der Bühne, wenn die dazugehörige Ampel grün ist, darf der Zuschauer dort „szenisch rauchen“. Auch Gymnastikübungen zur Lockerung steifer Knie führt er vor. Dennoch werden nach zehn Stunden Zweifel aufkommen, „ob der menschliche Körper dafür gemacht ist, so lange zu sitzen“. Wie lange wird die Erinnerung an diesen Abend bleiben? Wann werden alle, die daran teilhatten, gestorben sein? Wie lange wird diese Erde noch existieren? Wird sie untergehen? Oder werden Größenwahn und Gier aussterben und die Menschen nach einer langen Zeit in Höhlen herauskommen und friedlich den Sonnenaufgang anschauen?
Und unbemerkt sind wir schon mitten drin. Der erste Teil, der mit „Prometheus. Die Erfindung des Menschen“ überschrieben ist, berichtet vom Titan Prometheus, der den Menschen gegen den Willen des Zeus das Feuer – und damit eine Vormachtstellung gegenüber den Tieren – brachte. Und als Strafe an den Kaukasus geschmiedet wurde, auf dass ein Adler bis in alle Ewigkeit in seiner stets nachwachsenden Leber hacke. Über einer noch ziemlich leeren und kargen Bühne (Jonathan Mertz) schwebt Benjamin Radjaipour in einem Käfig. In unregelmäßigen Abständen wird er mit weißer Farbe bespritzt, dem Kot des Vogels, seine einzige Nahrung. Man hört nur den Wind und das Mäh der Schafe (gespielt von Schauspielern mit übergeworfenen Fellen), die unter ihm die Bühne kreuzen und hie und da einen unmotivierten Versuch der Fortpflanzung unternehmen. Eine kleine Ewigkeit lang. Majd Feddah spielt den Zeus, der ihn bestraft hat: „You gave them the fire, and they will give us a war“, prophezeit er die Folgen Prometheus‘ Handelns und nimmt vorweg, was kommen wird.
„Troja. Der erste Krieg“, so ist der zweite Teil überschrieben, der gewaltig und laut die Schrecken des Krieges heraufbeschwört. Peter Brombacher steht vor den Mauern der Stadt, weiße Glasquadrate in einem stählernen Gerüst, und zählt die Führer der Griechen und ihre Schiffe auf: Es sind viele, von denen der Zuschauer bereits weiß, dass wenige von ihnen diese Schlacht überleben werden. Matze Pröllochs sitzt zentral auf der Bühne mit seinem Schlagzeug, begleitet die auf die Wände projizierten flirrenden Video-Projektionen (Susanne Steinmassl) mit ohrenbetäubendem Sound, während vorne nun Hektor (Majd Feddah) und Achill (Wiebke Mollenhauer) in einem tödlichen Zweikampf aufeinandertreffen. Die Brutalität des Krieges übersetzt Rüping in eine körperliche Erfahrung. Als die Männer tot sind, die Stadt in Schutt und Asche liegt, wird es ruhig. Die Frauen treten auf, die Übriggebliebenen. Maja Beckmann ist die Andromache, Hektors Witwe, deren Sohn von den Eroberern getötet wird: Sie werfen den Säugling von der Stadtmauer. Selten – oder nie? – war das Leiden am Krieg im Theater so greif- und fühlbar wie in ihrem Monolog. Am Ende dieses zweiten Teiles wird Kassandra (Gro Swantje Kohlhof), die trojanische Seherin, ihrem Unterwerfer Agamemnon einen Traum erzählen. Einen, in dem die Schlacht um Troja wie ein Film rückwärts abläuft, in dem die Trümmer sich wieder zu einer Stadt zusammensetzen, in dem die Wunden sich verschließen und die Toten aufstehen, in dem die Angreifer ihre Sachen packen und zurück nach Griechenland segeln. Als wäre nichts geschehen. Als könnte man die Zeit zurückdrehen.
Da das ein Traum bleibt, folgt der dritte Teil: „Orestie. Verfall einer Familie“. Rüping verpackt die Heimkehr Agamemnons aus Troja und ihre tödlichen Folgen ins Serienformat: jeder Mord eine Folge, die Aussicht auf den nächsten als Cliffhanger. Klytaimnestra mordet mit ihrem Geliebten Aigisthos den Agamemnon und Kassandra. Orestes und Elektra wiederum bringen Klytaimnestra und Aigisthos um. Rüpings Inszenierung neigt in diesem Teil zum Klamauk, was man aber gerne verzeiht, weil man diesen grandiosen Schauspielern in jedem Moment gerne zuschaut. Und weil die filmische Form es dem Regisseur erlaubt, mittels Rückblenden auch die verworrenen Vorgeschichten zu erzählen, die klarmachen: Jeder hier fühlt sich als legitimer Rächer vergangener Verbrechen, jedem ist Unrecht geschehen. Am Ende benötigt der Mensch dann doch wieder einen Gott, um diesem Kreislauf des Mordens zu entkommen. Matze Pröllochs schwebt als Apollon, als erlösender deus ex machina aus dem Bühnenhimmel, beendet die Zeit der Blutrache und führt die Gerichtsbarkeit als Alternative ein: „Aller Streit sei beendet.“ Am Ende der Tragödien-Trilogie also Frieden. Vorerst.
In der Nachspielzeit, dem Satyrspiel „Was hat das mit Dionysos zu tun?“, lässt Rüping seine Schauspieler als putzige Satyrn auf der Bühne kicken. Entspannung in der massenwirksamsten Form modernen Improvisations-Theaters: dem Fußball. Nils Kahnwald zitiert dazu Jean-Philippe Toussaints „Le Mélancholie de Zidane“, erzählt vom Blick Zidanes in den Himmel, von seinem Kopfstoß im WM-Endspiel 2006, von seiner Melancholie und der „Flucht vor der Vollendung des Werks“. Im Grunde: von einem Mensch ohne Götter, allein in seinem Scheitern. Dann lässt Rüping eine riesige Sonne aufgehen, in quadratische Felder unterteilt wie Trojas Mauern vor ihrer Zerstörung. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht ein wenig kitschig, aber nach diesem Theaterexzess verdient. Jeder einzelne Schauspieler hat heute und hier in jedem einzelnen Augenblick überzeugt. Es gab an diesem ganzen langen Tag keinen Leerlauf, keine Längen. Dafür ein kollektives Erlebnis mit Stage Diving und allen Mitteln, die das Theater zu bieten hat. Auf zehn Stunden Spiel folgen zehn Minuten Standing Ovations. Ein Höhepunkt der Saison, schon jetzt. Berauscht tritt man hinaus auf die Maximilianstraße, wo es inzwischen Nacht geworden ist. Trifft auf andere, die sich ihren Rausch auf dem Oktoberfest geholt haben, und weiß: Das Risiko hat sich gelohnt. Auf die Nase fallen sieht anders aus.