Tine Rahel Völcker hat nun im Auftrag des Schauspiel Köln eine „Antikenüberschreibung“ der Atriden geschrieben, vermischt Motive von Aischylos, Euripide und Sophokles. „We are Family“ beginnt mit der Opferung von Agamemnons Tochter Iphigenie durch ihren Vater, damit der göttliche Wind die Flotte das Heer der Griechen nach Troja bringe. Im zweiten Teil hat Klytaimnestra nach dem gewaltsamen Tod des Gatten Agamemnon die Macht übernommen, streitet als neue Herrscherin mit der Hetäre Phryne über die Radikalität des Mentalitätswandels. Schließlich beendet die anfangs noch hasserfüllte Tochter Elektra durch den Ausstieg aus ihrer Rolle ihre Pläne vom Muttermord und damit die ewige Spirale aus Mord und Rache.
Die scharfsichtige Hetäre Phryne ist zugleich Moderatorin fürs Publikum und radikalste Patriarchenkritikerin. Dadurch gerät diese zentrale Rolle in die Nähe einer Protagonistin politischen Kabaretts, hat zugleich jedoch auch die Figur der sozial besonders weit unten angesiedelten Frau zu spielen. Hilke Altefrohne eröffnet in Jorinde Dröses Uraufführungsinszenierung das Spiel im Glitzerkostüm (Kostüme: Juliane Kalkowski). Vor einer halbrunden, gediegenen Holzwand (Bühne: Magdalena Gut) klärt sie uns auf über das unerfreuliche Schicksal einer Hetäre, bevor sie als Dienerin des Agamemnon (Ronald Kukulies) den peinlichen Mann in weißer Unterwäsche zu einem aufgeblasenen Outfit mit goldenem Brustpanzer und tarnfarbenem Sakko verhilft. Auch die zwei anderen Männer Menelaos (Benjamin Höppner) und Achill (Leonard Burkhardt) sind im Grunde eitle Gockel.
Männer auf dem Podest
Klymainestra (Yvon Jansen) und Iphigenie (Hannah Müller) zeigen anfangs klischeehafte Girlies. Im radikaleren zweiten Teil gelingt es Yvon Jansen als pragmatische Männermörderin und der nun als Iphigenies Geist auftauchenden Hannah Müller etwas vielschichtigere Charaktere zu etablieren. Hilde Altefrohne bewältigt souverän ihre hybride Rolle als Phryne. Und doch hat die Konstruktion ihrer Figur etwas halbherziges. Auch die drei Männergestalten hangeln zwischen Popanz-Karikatur und Resten von Helden aus einer verstaubten Vergangenheit. Bei Leonard Burkhardts – in den Posen an dem Fußballhelden Ronaldo angelehnte – Feigheit Achills und dessen Sorge um seine Ferse blitzt kurzzeitig Komik auf. Dann bilden die Männer, ganz in weiß zu Statuen gewandelt, einen Chor gegen alle Änderung und werden von Phryne mit einem großen Hammer vom Sockel geholt.
Doch auch die gefallenen Männer erheben sich wieder und stimmen in das vielstimmige und dabei sehr einhellige Finale ein. Maddy Frost als zuvor noch patriarchal beeinflusste Mutterhasserin steigt aus ihrer Rolle aus und vereinigt schließlich alle zum frontal vorgetragenen harmonischen Ausstieg aus den jahrtausendlang eingeübten Rollen: „keine neuen Statuen“ mehr. Und vor dem letzten Black der rhetorische Aufruf ans Publikum, Stellung zu beziehen.
Starke Verkürzung
Die Kölner Uraufführung tut sich insgesamt schwer mit dem teils komischen, teils predigenden Ton von „We are Family“ – und mit seiner starken Verkürzung. Die Familienverhältnisse werden in diesem anderthalbstündigen Schnelldurchlauf durch das Iphigenie- und das Orestie-Drama nur angerissen. Mit bedeutungsschwangeren Tönen zum Szenenende (Musik: Lars Wittershagen) wird Tragik angedeutet, wobei kaum Raum bleibt, sie durch die Figuren zu entwickeln. Vielleicht würden satirische Zuspitzungen statt halbgarer Statuen-Stürze bei der Inszenierung dieses Textes helfen, wirklich am Lack der Überlieferung zu kratzen und damit die Unflexibilität unserer Gesellschaft aufzubrechen.