Foto: "Atmen" an der Schaubühne am Lehniner Platz. Lucy Wirth, Christoph Gawenda © Stephen Cummiskey
Text:Elena Philipp, am 2. Dezember 2013
Um rund 12.500 Menschen ist die Weltbevölkerung gewachsen, während wir im Theater saßen. Eine LED-Anzeige zählt 75 Minuten lang mit, rot blinkt die zehnstellige Ziffernfolge, die für uns mehr als sieben Milliarden steht. Soll man in diese überbevölkerte, kaputte Welt noch ein Kind setzen? Einen “echten lebenden atmenden denkenden“ Menschen, der im Lauf seines Lebens weitere zehntausend Tonnen Karbondioxid verursachen wird? Das fragt sich ein namenloses Paar in Duncan Macmillans “Atmen”, das Katie Mitchell nun an der Berliner Schaubühne inszeniert hat.
An der Ikea-Kasse soll man Sie und Ihn bei ihrem Reproduktionsgespräch imaginieren, und dafür braucht es tatsächlich Vorstellungskraft, denn Lucy Wirth und Christoph Gawenda sind darstellerisch auf ihre Stimmen reduziert: Die beiden Schauspieler strampeln während der gesamten Inszenierung auf fest fixierten Fahrrädern und erzeugen so, gemeinsam mit vier weiteren Fahrradfahrern, die gesamte für die Inszenierung benötigte Energie. Mitchell hat für ein eher konventionelles Dialogstück eine experimentelle, fast radikale Form gefunden: das klimaneutrale Theater.
Zum Stolpern dunkel ist’s denn auch beim Einlass: Mehr Strom können die Fahrradfahrer nicht erzeugen, die leise surrend in die Pedale ihrer aufgerüsteten “A-Frame-Standfahrräder” treten und kinetische in elektrische Energie umwandeln. Die straßentauglichen Räder der beiden Schauspieler sind auf hohe schwarze Podeste montiert, über denen ein Deckel schwebt, der die Aufbauten wie die Transportboxen eines Fast-Food-Lieferdienstes und zugleich wie Sarkophage wirken lässt. Hergestellt sind sie aus gepresstem Recyclingmaterial, wie man es in der gelben Tonne findet; das Programmheft listet mit politisch korrekter Akribie Sahnebecher, Chipstüten, Plastiktüten und Spraydosen. Eine schöne Metapher hat Bühnenbildnerin Chloe Lamford damit gefunden für Tragik wie Banalität der Selbstauslöschung der Spezies Mensch.
An eine frühere Inszenierung knüpft Katie Mitchell mit “Atmen” an, “Ten Billion”, das 2012 auch zum Festival in Avignon eingeladen war. In einer Performance Lecture ließ Mitchell den Computer- und Neurowissenschaftler Stephen J. Emmott über den drohenden Bevölkerungskollaps referieren. Mit “Atmen” beleuchtet sie nun die Individualebene und reflektiert das schlechte Gewissen des aufgeklärten westlichen Materialisten, der Kaffee aus Fairtrade-Handel trinkt, seinen Müll trennt und doch mit dem Auto zum Möbelhaus fährt, um ein Kinderzimmer einzurichten.
Verlieren Er und Sie das erste Kind durch eine Fehlgeburt, treffen sie sich nach längerer Trennung wieder, Sie wird schwanger, mit einem kurzen Schrei Mutter – und im Zeitraffer, wie zuvor mit minimalem Wechsel von Intonation und Haltung einen Szenenwechsel andeutend, überspringen Er und Sie im Gespräch wie im gemeinsamen Leben Jahre um Jahre. Schließlich hört erst Er, dann Sie mit dem Treten auf und die pedalbetriebenen Halogenlampen verlöschen. Es herrscht wieder Höhlendunkel. Ob das die Zukunft des Theaters ist?