Foto: Georg Mitterstieler und Joshua Seelenbinder in "Iphigenie auf Tauris" am Staatstheater Braunschweig. © Thomas M. Jauk/Stage Picture
Text:Jan Fischer, am 26. Januar 2020
„Sie verlassen jetzt das 21. Jahrhundert“ steht groß auf ein Banner im Foyer des Kleinen Haus des Staatstheater Braunschweig gedruckt. In welche Richtung? Das steht da leider nicht. Und dahinter sieht auch alles aus wie sonst: weder Cyberpunk noch Weimarer Klassik, nur Publikum, das redend Gläser mit Weißweinschorle umherträgt.
Die Zeitreise, wenn man es so nennen möchte, beginnt erst im Theaterraum selbst. Stoffbahnen hängen dort von der Decke, die den Zuschauerraum einem aus vergangenen Jahrhunderten ähnlich machen sollen, den Abschluss der Bühne bilden vier auf Holzverschalungen gedruckte Säulen, auf den Vorhang sind in sorgfältig geschwungener Schreibschrift altertümlich formulierte Regie- und Bauanweisungen abgebildet. Und als der Vorhang sich hebt, ist das Bühnenbild, vor dem Iphigenie sich als menschlichste der Tantaliden bewähren soll, eine halbrunde Plane mit dem Bild einer griechischen Tempellandschaft.
Gerade bei Klassikern wird ja gerne einmal „aktualisiert“, „neu gedacht“, sie werden „in die Gegenwart geholt“ oder auch mal, soll vorkommen, „gegen den Strich gelesen“. In Braunschweig bemüht sich Michael von zur Mühlen um das genaue Gegenteil. Seine „Iphigenie auf Tauris“ ist, soweit machbar, vom Ballast der Jahrhunderte entkleidet und soll so dicht wie möglich an eine historische Aufführung herankommen. Einerseits eben atmosphärisch, durch die Wandbehänge im Zuschauerraum, die Säulen zum Bühnenabschluss, das klassizistische Gemälde als Bühnenhintergrund, die Beleuchtung, die nur vom vorderen Bühnenrand zu kommen scheint (aber leider weder von Gas- noch von Öllampen – bei den Feuerschutzbestimmungen hört die Werktreue auf). Andererseits aber auch die Haltung der Schauspielerinnen und Schauspieler: Goethes Text wird in schönstem Retro-Deklamationssprech zum Besten gegeben, ihre Rüstungen und Schwerter klimpern und klongen bei jeder Bewegung.
Man kann sich hier natürlich erst einmal über Simulationsebenen unterhalten: Wenn bereits Goethes „Iphigenie aus Tauris“ sich als Drama der Weimarer Klassik und Euripdes-Neufassung auf eine – mehr oder weniger imaginierte – Antike bezog, dann ist der Versuch, das in einer Art klassizistischer Parallele 200 Jahre später noch einmal nachzubauen, eine Schwundstufe weiter. Klassizistischer Klassizismus? Experimentelles Retro-Theater? Werktreue? Wenn ja, treu zu wessen Werk genau?
So oder so ist von zur Mühlens Inszenierung eine einseitige – die einzige Regieidee ist eben, „Iphigenie auf Tauris“ „alt“ zu inszenieren –, und so konsequent wird das auch drei Stunden lang durchgezogen. Weder das Bühnenbild noch die Beleuchtung wechseln, nur zwischen den Akten wird der Vorhang kurz heruntergelassen und wieder hochgezogen. Das ist dank des Goethe‘schen Textbrockens manchmal durchaus quälend. Manchmal aber, durch das fast an Parodie grenzende Deklamieren der Texte, auch sehr lustig. Dazu kommt noch, dass das Ensemble ihre Figuren ein wenig anders liest, als sie für gewöhnlich gelesen werden: Vanessa Czaplas Iphigenie ist zwar hübsch hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Gefühl, allerdings auch durchaus genervt bis hin zum offenen Sarkasmus. Georg Mitterstielers Orest wirkt geradezu suizidal in seinem Verlangen, doch jetzt endlich bitte irgendeine Art von Heldentod zu sterben, und schwankt in seinem Leiden zwischen übertriebener Tragik und Wutanfall eines Dreijährigen vor dem Süßigkeitenregal im Supermarkt. Mattias Schambergers König Thoas ist schön fies bis zur Unmenschlichkeit.
Dennoch stellt sich in von zur Mühlens „Iphigenie auf Tauris“ die Frage, was das soll. Zwar lassen sich hier und da – neben den klassischen Lesarten zu Goethes Menschenbild und den Idealen der Weimarer Klassik – noch andere Ansatzpunkte aus dem Text herauslesen. Beispielsweise wenn es um Iphigenies Selbstbestimmung geht, um die ständig gewaltbereiten Männer und Geschlechterbilder, um das Verhältnis zwischen Heimat und Fremde. Aber dabei bleibt es eben: Ansatzpunkte. Und auch wenn die Inszenierung sich manchmal stark an der Grenze zur Parodie bewegt, so ganz wird sie nie eine. Geht es hier um eine Befreiung Iphigenies vom Ballast der Jahrhunderte? Geht es hier – am Ende der Vorstellung werden im Publikum durchaus einige Buh-Rufe laut – Werktreue als Provokation? Um einen Witz, eine Inszenierung, die die oft gehörte Publikumsforderung danach, die Klassiker doch mal so zu spielen, wie sie gemeint seien und nicht immer so „modern“, überaffirmativ zurückspiegelt? Fest steht: Von zur Mühlen entdeckt „Iphigenie auf Tauris“ nicht neu, tatsächlich tritt sogar das genaue Gegenteil ein: Er entdeckt sie alt. Und findet in dem Stoff dann doch noch die eine oder andere Frage, die sich weiterzuverfolgen lohnte.