Text:Wolfgang Behrens, am 15. Juni 2015
Es könnte ein so einfaches Ding sein um die Liebe. Und scheinbar einfach ist es auch, was uns Regie-Altmeister Hans Neuenfels an der Berliner Staatsoper im Schillertheater als bipolare Wahlmöglichkeit anbietet. Wenn das Buffo-Mädchen Zerbinetta zu ihrer Bravourarie „Großmächtige Prinzessin“ ansetzt, erhebt sich die in ihren Liebeskummer eingesponnene Ariadne von ihrer Chaiselongue und schreibt mit Kreide an eine schieferfarbene Kulissenwand: „Ich glaube an die einzige Liebe“. Auf eine korrespondierende Wand ihr gegenüber notiert Zerbinetta gleich darauf die Gegenthese: „Die Liebe hat unzählige Gesichter“. Bündiger kann man den dramaturgischen Kern des Hofmannsthal/Strauss’schen Opern-Experiments „Ariadne auf Naxos“, dieses schillernden Zwitters aus Komödie und tiefernstem Spiel, kaum fassen: Hier der hohe, metaphysisch aufgeladene Begriff der Liebe; dort ihr tändelnd sinnenfrohes, höchst irdisches Gegenbild. Man muss sich nur für eine Seite entscheiden, und schon wird alles gut.
Aber so einfach ist es natürlich nicht. Und in klar komponierten Rätselbildern führt Hans Neuenfels ebendies in dem von Katrin Lea Tag entworfenen, von variablen Wänden und Vorhängen durchzogenen weißen Bühnenkasten vor. Von ihrem Commedia dell’arte-Liebhaberquartett komisch umtanzt, muss Zerbinetta (vorerst) doch auch den Einen erwählen, und schon eilt der Tod in Gestalt eines Skelettmannes herbei, um die Verbindung der beiden Liebenden zu beglaubigen – der Eros ist bei Neuenfels ohne Thanatos nicht zu denken, da hilft auch der Rückgang aufs pure Lustprinzip nichts (das Zerbinettas Liebhaber am Ende des Vorspiels zur Oper mit wedelnden Gummischwänzen bereits drastisch illustriert hatten).
Ariadnes Weg hingegen, der auch der Weg ihres Schöpfers, in Hofmannsthals raffinierter Theater-auf-dem-Theater-Konstruktion nämlich des Komponisten aus dem Vorspiel, ist, ist der der Triebunterdrückung und -sublimierung. Was die Figur des Komponisten noch mit jugendlich-schwärmerischer Begeisterung erfüllt – der Glaube an die einzige Liebe –, führt bei Ariadne direkt in die Depression. Neuenfels hat sie daher folgerichtig aufs Sofa gelegt, die Inselnymphen umkreisen sie wie Krankenschwestern aus der Ära Sigmund Freuds, und ihrem schwermütigen Kopf entsteigen eigenartige Visionen von großer, aber auch beunruhigender Schönheit: Ein Puppenspieler, auf dessen schwarzem Muscle-Shirt das altgriechische Wort für „Schicksal“ steht, umspielt sie mit zwei Tonköpfen, die zuletzt blutüberströmt wiederkehren werden. Eine Prozession violettgewandeter Würdenträger schreitet unterm Baldachin mit einer güldenen Hermes-Statuette herein, die für Ariadne zu einer Art Projektionsfigur wird. Mit dem Stab dieser Figurine wird sich Ariadne – entgegen der Hofmannsthal’schen Vorlage – am Ende erdolchen. Denn auch der neu in ihrer Welt auftauchende Gott Bacchus, den sie für den Todesgott hält und der hier – ein Inbild widernatürlich gebändigter Kraft – mit goldener Panthermaske einem Käfig entsteigt, bringt keine Erlösung.
Wie Bacchus und Ariadne aneinander vorbeisingen, wie sie, anstatt sich als Liebende zu finden, in immer größere Verwirrung abstürzen, das hat man lange nicht mehr so eindringlich inszeniert gesehen wie hier. Überhaupt setzt Neuenfels auf eine psychisch fein ausgelotete, gestisch präzise an der Musik orientierte Personenregie, zu der sich die überschaubare Zahl der Rätselbilder so zwanglos wie irritierend hinzugesellt. Nicht zuletzt die Nöte und Ekstasen der Komponisten-Figur nimmt der Regisseur gänzlich ernst: Mit Marina Prudenskaya kann er freilich auch eine hinreißende Sängerdarstellerin aufbieten, die den pubertären Furor des Komponisten großartig ausagiert und zudem die gefürchteten Sprünge und Attacken dieser Partie fulminant bewältigt – die herausragende Leistung dieses Abends!
Der sich sängerisch ohnehin auf beglückend hohem Niveau bewegt: Camilla Nylund führt ihre Ariadne stimmlich sehr schlank – was in manchen Momenten auf Kosten der Durchschlagkraft gehen mag, dafür aber einen Zugewinn an kantabler Linearität bedeutet. Brenda Rae lässt ihre Zerbinetta-Koloraturen nicht einfach nur brillant herunterschnurren, sondern gewinnt ihnen ein erstaunliches rhetorisches Potential ab. Und Roberto Saccà schlägt sich in der doch recht undankbaren Partie des Bacchus sehr wacker und mit einigem Höhenglanz. Da auch die Staatskapelle unter Ingo Metzmacher trefflich aufgelegt ist, druckvoll und plastisch im Detail aufspielt, ohne sich je im melodischen Schmelz zu verlieren, ist man musikalisch bei dieser „Ariadne“ bestens aufgehoben. Szenisch sowieso – was auch das Premierenpublikum so sah: Die sonst so obligatorischen Buhs für Neuenfels fielen diesmal aus. Wenn der Altmeister über die Liebe erzählt, hört man lieber zu statt zu meckern.