Foto: Kerstin Avemo (Stimme II, Mitte), hinter ihr der Dirigent Peter Rundel in „Ich geh unter lauter Schatten“ © Ursula Kaufmann
Text:Andreas Falentin, am 12. August 2022
Ein Wagnis: Das Dramaturgie-Team der Ruhrtriennale um Barbara Eckle hat exponierte Werke von vier führenden Komponisten des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts zum diesjährigen Eröffnungs-Theaterabend kompiliert. Gérard Grisey, dessen „Quatre chants pour franchir le seuil“ im Zentrum des Abends stehen und dessen Thema setzen, Giacinto Scelsi, Claude Vivier und Iannis Xenakis komponierten alle vier nicht seriell. Sie suchten abseits des Seriellen eigene, sinnliche Wege zur Überwindung der klassischen Harmonik.
Nicht eins der ausgewählten Stücke ist für die Theaterbühne geschrieben. Jedes trägt eine ganze Klang- und Ausdruckswelt in sich. Dennoch ist es gelungen, diese so unterschiedlichen Kompositionen musikalisch in einen stringenten Ablauf zu überführen.
Vier gewaltige Stege hat Hermann Feuchter wie einseitig herabhängende Traversen in den Raum der Jahrhunderthalle gesetzt. Auf jeder steht, sitzt, kauert eine Frau. Durch die Glasflächen am Giebel der Halle dringt die Abenddämmerung. Wir hören Scelsis „Okanogon“ für Harfe, Kontrabass und Tam-Tam, eingesetzt wie eine klassische Ouvertüre, ohne szenische Aktion. Asketische Klänge tanzen unruhig durch den Raum und wir nehmen wahr, wie nach und nach aus Abendlicht Dunkelheit wird. Dann wird die Halle teilweise beleuchtet. Im ersten Abschnitt von Griseys „Quatre chants pour franchir le seul“ („Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten“) geht es um den „Tod des Engels“. Später folgen „Der Tod der Zivilisation“, „Der Tod der Stimme“ und „Der Tod der Menschheit“.
Ideale Interpret:innen am idealen Ort?
Der Engel trägt Weiß, steigt die Stiege hinab und stirbt, was einen am E-Piano sitzenden Mann lachend forttreibt. Gesang und Präsenz von Sophia Burgos hauen einen trotzdem schier um, was auch von ihren später auftretenden Kolleginnen Kerstin Avemo (Zivilisation), Kristina Stanek (Stimme) und Caroline Melzer (Menschheit) gesagt werden kann und muss. Wie überhaupt die musikalische Qualität überwältigend ist. Was das Klangforum Wien, die zwölf Sänger:innen vom Chorwerk Ruhr, der Dirigent Peter Rundel und der Sounddesigner Thomas Wegner leisten, ist kaum mit Worten zu beschreiben. Diese hochkomplexe Musik scheint am idealen Ort ideale Interpret:innen gefunden zu haben, fast neu erfunden worden zu sein.
Die „Quatre chants“ waren Griseys letzte Komposition, bevor er unerwartet an einem Aneurysma starb. Das sich an den „Tod des Engels“ anschließende „Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele“ war die letzte Komposition von Claude Vivier, der hier in gespenstischer Weise seine Todesart voraussagte: Er wurde von einem jungen Mann erstochen. Wir hören den Sprecher Eric Houzelot, das Chorwerk Ruhr und drei Synthesizer. Wir erleben faszinierende Musik. Denken wir bei Griseys irisierenden Klangschlieren und -splittern an Lichtbrechung, mutet Viviers Musik an wie weiche, oft zerrissene Kurven, wie fragmentierte Versuche, eine Transzendenz zu erreichen, schon in der Bemühung fast außerweltlich schön. Beim zweiten „chant“ von Grisey gelingt ein starkes Bild, will die blau gekleidete Frau den Steg erklimmen, der vom Chor besetzt ist. Sie versucht es wieder, rennt an gegen diese Körper, die wie eine elastische Kette zurückweichen, dringt jedes Mal ein wenig weiter vor, kommt aber letztlich nicht vorbei. Hier gelingt es Elisabeth Stöpplers Regie einmal, Kontrastmittel zu sein, Impulse aus der Musik aufzunehmen und ihr doch etwas Eigenes entgegenzusetzen. Am Rande wird derweil Stimme I entkleidet und in jenes blasse Oliv gewandet, das Chor und Orchester den ganzen Abend über tragen (Kostüme: Susanne Maier-Staufen).
Unsichtbares Zwischenraumtheater
Es folgt der Höhepunkt, Griseys „Tempus ex machina“ für sechs Schlagzeuger, die am äußersten Ende der Halle platziert sind. Wir sehen sie klein wie Zinnsoldaten und doch fluten sie den Raum mit Energiestößen, die mühelos ihren Weg über die gefühlt 80 Meter zu uns finden, wie unsere Aufmerksamkeit die Distanz zurück zu überbrücken scheint. Die Intensität wächst mit jedem Augenblick, die Penetranz der Komposition wird immer klarer. Man muss sich ihr hingeben, sonst kann man sie – vielleicht – kaum ertragen. Es entsteht also eine Art unsichtbares Zwischenraumtheater.
Es folgt der „Tod der Stimme“. Danach muss die Sängerin Christina Stanek, angeleitet vom stummen, plötzlich empathischen Sprecher, Rollschuh fahren. Das Erlernen dieser Fertigkeit spielt sie grandios aus, während der Chor Xenakis‘ „Nuits“ singt, eine Art musikalisches Mahnmal für politische Gefangene. Hier bleibt die Inszenierung flach. Sie lässt schlicht und konventionell sterben. Auch zum „Tod der Menschheit“ ereignet sich nicht mehr viel. Bilder frieren ein. Die Sängerin steigt hinan.
Ein zwiespältiger Abend: Musikalisch überwältigend, eigentlich unverzichtbar durch das Zur-Verfügung-Stellen komplexer, wesentlicher und weitgehend unbekannter Kompositionen in Modellinterpretationen. Aber als Theater? Elisabeth Stöppler und ihr Team wissen, was sie haben: gleichsam hochwertiges Porzellan, das auf keinen Fall zerschlagen werden darf, auch nicht ein bisschen. Aber dieses Wissen scheint die Inszenierung genauso eingeschüchtert zu haben, wie der dunkle Ton, die ständige Präsenz von Gewalt und Tod in den Musiken. So konnte wohl Konzentration entstehen (vor allem durch Zurückhaltung), aber eben keine Lust am Spiel, wurde (fast) alles oratorische Strenge – bis auf die leichtfüßigen Pultwechsel des entspannten Dirigenten.