Foto: Szene aus dem zweiten Teil des Abends, die „Sinfonie der Klagelieder“ © Ida Zenna
Text:Ulrike Kolter, am 9. Februar 2020
Es gibt Aufführungen, die den abgenutzten Begriff Gesamtkunstwerk wirklich verdienen. Nach Mario Schröders neuem, zweiteiligen Ballettabend, „Lamento“ verlässt man die Leipziger Oper im seltenen Glück, solch einem Abend beigewohnt zu haben, in dem eine sehr gut aufgestellte, immerhin 38-köpfige Compagnie auf ein stringentes dramaturgisches Konzept trifft, dazu Lichtkomposition, Bühnenbild, Video und Kostüme in eine hochmusikalische choreographische Umsetzung münden. Wer bisher mit neoklassischem Ballett nicht recht etwas anzufangen wusste, dem sei „Lamento“ ans Herz gelegt.
Den ersten Teil des Doppelabends – „Blühende Landschaft“ – hatte der Leipziger Ballettdirektor bereits im Rahmen von „Pax 2013“ zur Uraufführung gebracht, damals in Gegenüberstellung zu einem Werk seines verstorbenen Vorgängers Uwe Scholz. Im erstaunlich gut harmonierenden Wechsel von Udo Zimmermanns „Liedern von einer Insel“ mit Werken Johann Sebastian Bachs spielt Schröder hier auf Helmut Kohls Nachwendevision der „blühenden Landschaften“ für die neuen Bundesländer an. Teil zwei ist eine choreographische Uraufführung zur „Sinfonie der Klagelieder“ des 1933 geborenen, polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki. Beide Teile dauern je eine knappe Stunde, die Pause dazwischen ist nötig, auch fürs eigene mentale Zurechtschütteln.
1. Teil „Blühende Landschaft“ – Utopie oder Enttäuschung?
Teil 1, 1990 auf dem Augustusplatz vor Leipzigs Opernhaus: Kundgebung und Wahlplakate der CDU, wehende Deutschlandfahnen. Vor diesen bühnenbreit projizierten Filmausschnitten liegen dutzende private Schuhpaare auf der sonst leeren Bühne, Tänzerinnen und Tänzer schreiten herein, ein Ankommen der internationalen Künstler in ihrer neuen Heimat, Hoffnung auf Freiheit? Die Gedichte, die Leipzigs ehemaliger Intendant und Komponist Udo Zimmermann für seine „Lieder von einer Insel“ vertont hat, kreisen allesamt um Themen wie Abschied, Verlassenheit, Schmerz, auch Hoffnung: Bachmann, Lasker-Schüler, Hölderlin, Heine. Nicht gesungen, aber als Ausdrucksmusik vertont sind sie, Zitate werden bruchstückhaft im Bühnenhintergrund eingeblendet.
Dazu arrangiert Schröder seine Tänzerinnen und Tänzer geschickt im Wechselspiel von großen Ensembles, kleineren Gruppen und Soli, perfekt harmonieren die flinken Auf- und Abgänge aus den Seitenbühnen, bilden sich neue Paare oder Reihen. Bei Hölderlins Hyperion-Zitat „Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen“ flirren die Streicher um die Wette mit blitzschnell in die Höhe geworfenen Armen und Leibern, die wie Meereswogen sich auf- und abbäumen. Und ehe der Zuschauer versinkt in Naturgewalten und Todesmetaphern, bilden die zwischengeschalteten Bach-Kantaten und -Konzerte ein willkommenes Intermezzo: Da zappeln einer Tänzerin – mit Rücken zum Publikum – derart die Hände und Füße, als müsste sie raussprudeln, die Lebensfreude in Bachs Doppelkonzert für Violine und Oboe.
Konstantes Element des ersten Teils ist ein quadratischer Lichtkegel, der an unterschiedlichen Bühnenstellen auftaucht und in dem ein Paar – unbeeindruckt vom übrigen Wuseln um sie herum – klassische Ballettfolgen exerziert: Pirouetten, Hebungen, minutenlang weilt die Tänzerin in seinen Armen im Passé. Ein Schutzraum oder Vergangenheit, Gefängnis oder Insel?
2. Teil „Sinfonie der Klagelieder“ – Schicksal und Hoffnung
Alle drei Sätze aus Góreckis 3. Sinfonie stehen im Largo und sind vertonte Klagelieder. Aus dem 15. Jahrhundert stammt das erste, der Ruf einer Mutter an ihren verlorenen Sohn. Wie Leichen werden Tänzerkörper quer über die Bühne gezogen, auf dem Rücken liegend oder bäuchlings, während von oben dunkle Tücher herabflattern, ohne Unterlass, bis zum Ende des Stückes die ganze Bühne scheint, als wäre sie mit Asche bedeckt.
Zum düsteren, 8. stimmigen Streicherkanon bevölkern nach und nach alle Tänzer in schwarzen Blusen und Slips die Bühne (Kostüme, Video, Bühne: Paul Zoller). Und es gelingt Schröder, die extrem langsamen Melodien mit seinen fließenden Bewegungsabfolgen in ein Tempo zu überführen, dem das Auge kaum folgen kann: Sprünge, Drehungen, kreisende Arme, Körper fallen zu Boden und schrauben sich wieder empor, formieren sich im Ensemble zum Kreis oder in Wellen. Hier ergibt sich der Mensch nicht in sein Schicksal, sondern bäumt sich auf gegen den Schmerz, bis zuletzt.
Wenn Górecki im zweiten Satz das Gebet eines 18-jährigen Mädchens vertont, gekritzelt an ihre Zellenwand während der Gestapo-Haft, wird es arg beklemmend: In durchsichtige Glaswürfel gesperrt, sehen wir Tänzerinnen und Tänzer am Rande des Wahnsinns, neben- und übereinander gepfercht wie KZ-Häftlinge, Köpfe und Arme vergeblich gen Himmel gereckt. Und um sie herum geht das Leben weiter…
Doch Schröder entlässt sein Publikum nicht hoffnungslos, sondern mit Momenten der Humanität: Als erst links, dann rechts aus der Ensembleaufstellung eine Tänzerin zur Seite wegkippt, wird sie sanft aufgehoben, zurück in die Gruppe geholt, tanzt weiter, bis der Vorhang schließt. Zaghaft bewegter, dann euphorischer Applaus – auch für eine herausragende Leistung des Gewandhausorchesters unter dem Dirigat von Christoph Gedschold.