Foto: Der schmerzende Zahn wird brutal entfernt, auf dem Foto: Doğukan Kuran, Jürgen Müller, Mariya Taniguchi, Karina Repova und Beomjin Kim. © Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Text:Roland H. Dippel, am 14. Dezember 2019
„Der goldene Drache“ ist eine gelungene Oper, weil ihr Komponist sehr genau über die Funktion von Musik in ihr nachdachte. Das bestätigt sich an der Komik und bitteren Ernst fein abwägenden Dramaturgie des behutsam gestrafften Schauspiels von Roland Schimmelpfennig. Für dieses hatte sich Peter Eötvös beim Besuch einer Inszenierung von Péter Gohár in Budapest begeistert. Das „Musiktheater“ erlebte nach seiner Uraufführung 2014 an der Oper Frankfurt mit dem Ensemble Modern erfolgreiche Produktionen in Bremerhaven, Koblenz und Krefeld/Mönchengladbach.
Die Flüchtlingsdiskussion der EU spiegelt sich in dem Werk – und die Härten der illegalen Ränder des Arbeitsmarktes. Eötvös hat die Vielzahl der Rollen auf fünf Solisten verteilt. Poetisch, aber brutal: Es beginnt mit quälend bohrendem Zahnschmerz! Dieser wäre kein langfristiges Problem für regulär Versicherte, aber für einen „Wok-Sklaven“ ohne Aufenthaltserlaubnis und abgelaufenem Visum ist es existenziell. Genauso für die skrupellosen Arbeitgeber im Thai-China-Vietnam-Restaurant „Der goldene Drache“, weil diese um die Entdeckung ihrer illegalen Personal- und Finanz-Kalkulation fürchten müssen. Das geht so weit, dass der von Zahnschmerz und der Isolation von seinen Angehörigen in der Ferne durch den Tod erlöste Leichnam des Jungen vom Arbeitgeber und Kollegen ins Meer gekippt wird und als fleischloses Skelett an der Küste seiner asiatischen Heimat anlangt. Im letzten langen Solo singt Mariya Taniguchi als „der Kleine“ befreit von Körper und Lebensschwierigkeiten. Dieser Schluss beschönigt, anders als oft im Musiktheater, nichts.
Eötvös vertonte für ein Kammerorchester mit den solistisch besetzten Standardinstrumenten, Klavier und zwei Schlagzeugern zuerst die Schmerzspitzen, -wellen und dumpfen Pausen dazwischen, die dem illegalen Billiglohnsklaven zu schaffen machen. Auskomponiert mit schneidender Schärfe. Dieses Klang-Akzidens ist eine starke Keimzelle, die später hinter den anderen musikalischen Figuren-Charakteristika zurücktritt.
Die Kausalketten von Schimmelpfennigs Schauspiel ziehen sich über zwei Kontinente, zeigen aktiv-passive Vernetzung aller mit allem. Die Verdichtung von Raum, Zeit und kapitalistischem Wertschöpfungsprozess ist das Kismet der Globalisierung. Eine Stewardess findet den von den Kollegen in der Küche mittels Zange herausgerissenen Zahn des Kleinen in ihrem Wok-Gericht: Ekel! Die Inszenierung und Nebenhandlungen des Librettos verhandeln Schattenseiten: Arbeitsfolter, Ausbeutung, soziale Funktionalität – Selbstbefriedigung inklusive. Die tschechische Regisseurin Barbora Horáková Joly entscheidet sich mit der internationalen Besetzung, zum Teil aus dem Jungen Ensemble Semperoper, für eine deutliche, nie überzeichnete Form des szenischen Erzählens, in der ein Affekt mehr aussagt als dessen sachliche Legitimation. Horáková Joly stellt zwar die ethnischen Identitäten des beeindruckend stimmigen Ensembles aus, auch die Unterschiede zwischen den Körpersprachen. Packend ist die feine, sensible und neben den punktuellen Reaktion immer das Staunen der Figuren zeigende Mimik der Darsteller: Der fragende Gesichtsausdruck des türkischen Baritons Doğukan Kuran, die schon groteske Wandlungsfähigkeit Jürgen Müllers vom reifen Mann zur Stewardess. Etwas neutraler sind die Rollenwechsel zwischen alter Frau und junger Begehrenswerter von Karina Repova und von Beomjin Kim zwischen jungem Mann und Grille. Sie alle nehmen die zwischen Konversationston und exaltierten Spitzen wechselnden Partien derart leicht, dass man die Transformation des Schauspiels in eine Oper vergessen könnte.
Die enge Küche des Restaurants ist ein metallenes Turmgerüst, mit dem die Ausstatterin Annemarie Bulla zugleich Assoziationen hin zu einer technisch dominierten Globalgesellschaft schafft. Organisch ist in diesem Setting nur noch der unsichtbare Inhalt der Food Boxes. Auf engstem Raum japsen die Küchenangestellten nach Luft, Stresspotenzial total. Blitzschnell wechseln die Darsteller von Männer- in Frauenrollen und umgekehrt. Immer singen und artikulieren sie dabei im Fokus der eigenen Stimmlage. Für die junge Sänger-Generation sind Travestie-Szenen längst ein jeder Exotik bares Handwerk. Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit halten sich sensibel die Waage.
Oder liegt das daran, dass die Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle Dresden, welche die Spielfläche einrahmen, das Semper Zwei akustisch vergleichbar souverän erobert haben wie das Stammhaus? Petr Popelka, ein Workshop-Teilnehmer der Peter Eötvös Contemporary Music Foundation Budapest, ist seit einem Porträtkonzert für den Komponisten im Rahmen von Eötvös‘ Dresdner Capell-Compositeur-Vertrag noch enger mit dessen Schaffen vertraut. Die Töne des auf den Gong geschlagenen Mikrofons und alle weiteren Effekte sind immer in das vokale Geschehen eingebunden. Trotz detailliert ausgebreiteter Klanglichkeit dieser polytonalen Partitur bleibt der sängerische Gestus natürlich – ohne Mikroports. Rückschlüsse über die Brutalität an den breiten antihumanen Rändern der globalisierten Zivilisation kommen von Videoprojektionen (Sergio Verde): Echte Ameisen stürzen auf die Grille. Sexuelle Attacke und Erschöpfungstod – der Mensch dem Menschen ein Wolf. Eine Darstellung psychischer Dimensionen erübrigt sich also. Eötvös‘ Wohlklang dazu ist alles andere als harmlos. Jubel und starker Applaus.