„Legende“ hat Serebrennikov die eigene Beschwörung von Paradjanovs Erbe überschrieben. Nicht um die Biographie geht es ihm, sondern um den spielerisch-phantastischen Umgang mit dem, was Paradjanovs Kunst ausmacht. Dafür hat der Theatererbe zehn Szenen kreiert, jede eine „Legende“ für sich. Wie so oft ist Serebrennikov auch der Ausstatter der eigenen Phantasien. Das (wie auch in früheren Arbeiten) um russische Gäste bereicherte Thalia-Ensemble aus Hamburg steht im Zentrum der über vier Theaterstunden; und mit der Musik von Daniil Orlov (der den Abend auch am Klavier begleitet und mitspielt) stößt bei der Ruhrtriennale auch der Trinity Cathedral Choir aus Georgien hinzu.
Mitreißende Bilder
Nachdem die Inszenierung sehr karg beginnt (zwei Maler pinseln wie auf einer Baustelle Teile der Bühne weiß), breitet sich danach ein Universum aus Farben und Materialien aus, vor allem in Kostümen und sehr viel Dekor. Immer wieder werden Teppiche ausgerollt und Tücher ausgebreitet; ganz so, als besuchten wir den übervollen Speicher von Paradjanovs Papa, dem armenischen Antiquitätenhändler. Gelegentlich taucht diese Figur dann auch tatsächlich auf, etwa, um allerlei Devotionalien einzukaufen bei einer alten Schauspielerin, die natürlich auch „Legende“ ist.
Das sind die Angelpunkte des Abends: Paradjanovs eigenes Leben und Leiden, die Erinnerungen an Lebende und Tote, schließlich Ausflüge in die Literatur. Unter anderem zu König Lear, dessen ahnungsvoll-todgeweihter Wahn beim Sturm auf der Heide zur Vision für die überalterte Herrschaft in der Welt wird. Serebrennikov erweist sich einmal mehr als Gestalter unerhört mitreißender Bild-Arrangements. Das Gefühl für Struktur und Wirkung der Musik ist unverändert meisterlich. Ob wir uns noch im Schauspiel befinden, immer mal wieder im Kino (angesichts von optischen Effekten und sehr viel Projektion), oder ob wir nicht doch längst in der Oper angekommen sind – wen interessiert das schon.
Kitsch-Kunst zum Fürchten
Aber die Inszenierung verrennt sich auch, zu eher lauem Kunsthandwerk und ziemlich aufdringlichem Kitsch. Zum Beispiel gleich nach der Pause: Legende Nummer 6 zeigt einen Wunschbaum auf der Bühne, vollgehängt mit lauter bunten Bändern. Leider kommt jetzt mal kein Bühnen-Wind auf (wie zuvor gerade für Lears Wahn-Bilder), und leider flattern die Bänder nicht. Erst dann könnten sich möglichst bald die Wünsche erfüllen, für das vielstimmige Ensemble. So groß ist die Gier, dass die Masse letztlich dem Sänger, der vorne zur Gitarre klampft, erst die Kleider vom Leibe reißt und ihn dann zerreißt, quasi auffrisst. Ein Gerippe steht schließlich am bunten Baum, und immer noch hat es die Gitarre umgehängt – und singt Leonard Cohens „Hallelujah“. Auf so viel Grusel-Kitsch muss erstmal jemand kommen.
Dann folgt das große Solo für die Schauspielerin Karin Neuhäuser, die auch sonst zur wichtigsten Identifikationsfigur des Abends wird: als Mutter, als Museumsdirektorin, die die streitenden Maler Dürer, Velazquez oder Caravaggio bewacht, zum Schluss als Paradjanov selbst, der das Gefängnis ausfegt mit brennendem Besen. Als gealterte Kino-Diva allerdings, umschwärmt von einem jugendlichen Regisseur, der nochmal einen Film mit ihr drehen will, bedient Neuhäuser vor allem virtuos alle nur denkbaren Äußerlichkeiten, alle Oberflächen der Figur. Serebrennikov war noch nie sehr empfindlich, was Brimborium betrifft. Gerade dadurch aber –das zeigt auch „Legende“- werden die Abende gelegentlich lang und immer länger.
Bald darauf aber, im Finale, ist die Inszenierung wieder ganz bei sich: musikalisch mit dem hinreißenden Chor, mit den grandios singenden Solisten im Ensemble. Mit den kraftvollen Thalia-Kräften um Neuhäuser, Falk Rockstroh, Pascal Houdus und Tilo Werner. Mit Szenerie und Dekor, das die Augen übergehen lässt.