Carmens exponierteste Kontrahentin aber ist Micaëla, die Fioroni enorm aufwertet. Im ersten Akt wirft sie sich dem Beförderungs-Aspiranten José sehr selbstbewusst als zukünftige Gattin an den Hals: eine Lady in red mit weißer Blume im Haar, die Carmen erotisch mindestens ebenbürtig ist. Genau diese sich anbahnende konventionelle Ehebeziehung aber fordert Carmen heraus: Nicht Manuela, sondern Micaëla ist hier das Opfer ihrer Messerattacke in der Zigarettenfabrik; danach okkupiert sie Micaëlas weiße Blume und verwandelt sie zum Symbol ihrer eigenen Verworfenheit; und eben diese Verworfenheit ist es, deren Faszination sich José nicht zu entziehen vermag. Mit José aber verfällt die ganze Restaurantgesellschaft mitsamt dem zunehmend derangierteren Bühnenbild in wonneschauernde Anarchie, von der sie sich dann durch Josés Corrida-Ritualmord wieder reinigt. Auf Josés resignierende Schlussworte hin aber –„Ihr könnt mich in Arrest nehmen, ich habe sie getötet, ach meine angebetete Carmen!“ – erscheint Micaëla im Brautkleid und nimmt ihn in Gewahrsam. Er wird fortan ein zahmer Ehemann sein.
Und Carmen selbst? Nun – natürlich weiß Fioroni, dass die wilde Zigeunerin längst zum Klischee geworden ist. Folglich macht er genau das auch kenntlich, indem er Carmens Habanera und ihre erotischen Trällergesänge als Showact und damit als Zitat zeigt. Zugleich kehrt er deren Vorzeichen um: Aus Carmens anarchischer Erotik wird bei Fioroni die Erotik der Anarchie und Carmen damit zum Stimulans seiner sozialen Chaostheorie. Vor allem darin besteht ihre Wirkung auf ihre Umgebung – erotisch könnte sie sich hier schwerlich gegen Micaëla behaupten. Das bringt die Hauptfigur aber um einen Gutteil ihrer Wirkung – sie wird zum Bedeutungsträger. Bedeutung aber ist nicht unbedingt sexy. Auch daran liegt es, dass Fioronis Inszenierung trotz starker Bilder und Personenführung streckenweise etwas thesenhaft bleibt.
Die Akzentuierung der Klischees greift auch in Werkstruktur und Musik ein – auf sehr spannende Art. Die Sprechtexte, die Fioroni gestrafft und aktualisiert hat, kommen im Gegensatz zum Gesang auf Deutsch und über Mikroport. Mitunter wirken sie dadurch fast wie innere Stimmen der Figuren oder wie Metakommentare zur Handlung. Teils wird die konventionelle Akteinteilung verwischt durch nachgestellte stumme Szenen, an die sich das Orchestervorspiel des Folgeaktes wie ein Nachspiel anschließt. Und Dirk Kaftan, GMD in Augsburg und Dirigent der Premiere, treibt vor allem in Carmens Gesängen das Tempo, die Dynamik und musikalische Charakteristik derart ins Extrem, dass sie auch dadurch etwas Überzeichnetes bekommen. Die Musik selbst wird zum Maskenspiel – und folgt damit sehr dezidiert der Tradition der Opéra comique. Kerstin Descher stellt sich als Carmen diesem Interpretationsansatz bemerkenswert mutig, obwohl – oder vielleicht weil sie keineswegs die ideale Carmen ist. Ihre Stimme klingt scharf und bisweilen verschlissen, im Forte wabert das Vibrato überbordend. Aber wenn sie die Habanera spröde und in tollkühn freier Deklamation gurrt, wenn sie raukehlig von Liebe, Folter und Tod trällert, dann bekommt ihre Carmen etwas chansonettenhaft-Verruchtes, was toll zu diesem Regieansatz passt.
Auch Ji-Woon Kim macht als Don José trotz einiger Defizite – mehlig-mürbes Timbre im Piano, teils etwas wackeliges Attackieren der Töne – positiv auf sich aufmerksam: mit differenzierter Dynamik, dunkler, klarer Mittellage und viril strahlendem Forte. Und Sophia Christine Brommer ist eine bemerkenswert vitale, jugendlich leuchtende Micaëla jenseits aller Blondzopfmägdelein-Betulichkeit, auch wenn die Stimme im Piano etwas fest sitzt und in der Tiefe bisweilen beengt klingt. Im insgesamt guten Augsburger Ensemble sind Frasquita (Cathrin Lange) und Mercédès (Stephanie Hampl) perlklar bei Stimme, Dong-Hwan Lee ist ein schlanker, dunkler Escamillo mit tadelloser (in dieser Partie sonst meist vernachlässigter) Pianokultur. Die allerdings war auch Dirk Kaftans geradezu kammermusikalisch differenzierter, beizeiten aber auch scharf zugespitzter, sehr facettenreicher Einstudierung zu danken, die in der von mir besuchten Vorstellung von Eberhard Fritsche mit einigen kleineren Spannungsdurchhängern, insgesamt aber sehr einprägsam umgesetzt wurde.