Lilith Häßle als Berta (r.) und das Ensemble von „Ingolstadt“

Keiner kommt hier trocken raus

nach Marieluise Fleißer: Ingolstadt

Theater:Salzburger Festspiele, Premiere:01.08.2022Vorlage:Fegefeuer in Ingolstadt; Pioniere in IngolstadtRegie:Ivo van Hove

Nachtschwarz ist es auf der Bühne der Perner-Insel in Hallein, 15 Schauspieler betreten die Finsternis und auch in den kommenden 150 Minuten wird es kaum Lichtblicke geben. Die Aufführung versteht sich als Erkundung der dunklen Seite des Menschseins. Bühnenbildner Jan Versweyveld hat dafür eine eindrucksvolle Seenlandschaft entworfen: Die ganze Bühne ist unter Wasser gesetzt, mit Inseln aus Stahlgitter, bei jedem Fehltritt stehen die Akteure im Nassen. Anfangs wird die Szenerie in ein schwarz-weißes Licht getaucht, die Darsteller knien nieder, lauthals leiern sie das Glaubensbekenntnis der römisch-katholischen Kirche herunter. Was für ein Auftakt!

Für die Salzburger Festspiele hat Regisseur Ivo van Hove Marieluise Fleißers Dramen „Fegefeuer in Ingolstadt“ (1926) und „Pioniere in Ingolstadt“ (1929) unter dem Titel „Ingolstadt“ zusammengefasst. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Burgtheater und wird die kommende Spielzeit in Wien eröffnen. Dramaturg Koen Tachelet hat die Texte gekonnt miteinander verzahnt. Auf den ersten Blick ist die Kombination sinnfällig – beide Stücke spielen nicht nur am selben Ort, Fleißers Heimatstadt in Oberbayern, in beiden Texten geht es um das Aufbegehren einer jungen Generation. Besonderes Augenmerk legte die Dramatikerin auf die Kampfzone der Geschlechter, zielstrebig verlieben sich die Falschen ineinander.
 
In „Fegefeuer in Ingolstadt“ geht es etwa um Olgas (Marie-Luise Stockinger) ungewollte Schwangerschaft. Der Kindsvater lässt sie sitzen, Tilman Tuppy tritt in Hallein als James-Dean-Look-a-like in Lederjacke auf, als Retter spielt sich der Außenseiter Roelle (herausragend: Jan Bülow) auf, doch der an Schizophrenie Leidende versagt kläglich, Olga bleibt in ihrer Notlage allein. Die Szenen zwischen den Burg-Nachwuchsstars gehören zu den darstellerischen Höhepunkten der Aufführung. Bülow und Stockinger finden zu einer passgenauen Spielweise für den rauen Umgangston. In „Pioniere in Ingolstadt“ bringt dann ein Trupp junger Soldaten die Mädchen des Orts um den Verstand. Bertas (Lilith Häßle) mädchenhafte Schwärmerei zerschellt buchstäblich am profilierten Womanizer Korl (Maximilian Pulst).

Grundverschiedene Vorlagen

„Fegefeuer“ ist eine geradezu archaische Parabel von der zu jungen Mutter, während „Pioniere“ in einer feinziselierten Beziehungsstudie herausarbeitet, wie sich Gewalt in das Liebesleben einschleicht. Tatsächlich sind die Stücke sowohl sprachlich als auch atmosphärisch sehr verschieden. Im Lauf der Inszenierung wird das zunehmend zu einem Problem: Regisseur van Hove muss viele Handlungsstränge und Beziehungsgeflechte in knappen Szenen unterbringen, das lässt den Schauspielerinnen und Schauspielern wenig Zeit und Raum, um ihre Konflikte darzulegen und auszuleben. Offensichtlich geht es van Hove weniger um das Innenleben der Figuren als vielmehr um das eindrucksvolle Zurschaustellen schier unerträglicher Situationen. Besonders drastisch ist etwa eine Waterboarding-Szene, bei der die Soldaten ihren Frust über die Schinderei des Feldwebels an einem Zivilisten auslassen, der Unglückliche wird wieder und wieder untergetaucht. Gegen Ende der Inszenierung kommt es auch noch zu einer Unterwasser-Vergewaltigung, zu sehen ist eine wilde Rangelei zwischen der halb entblößten Lilith Häßle und Maximilian Pulst, bei der auch Pulst ordentlich Dresche kassiert.

Rohheit und Entfremdung

Die diversen Kampfhandlungen im, am und unter Wasser sind spektakulär, aber auch etwas inflationär. Jede und jeder muss mindestens einmal Wasser schlucken, keiner kommt hier trocken raus. Trotz aller Bemühungen gelingt dem Ensemble kein rundweg überzeugendes Körpertheater. Auch die chorischen Szenen wirken abgegriffen: Fast immer wird dabei kräftig im Wasser gestampft und lauthals gebrüllt, dabei ist es schon egal, ob nun ein Vaterunser heruntergebetet oder ein deutsches Volkslied zum Besten gegeben wird, grob bleibt es allemal.
 
Fleißers großes Thema, die Rohheit und Entfremdung zwischen den Geschlechtern, hat bedauerlicherweise wenig an Gültigkeit verloren. Ivo van Hoves „Ingolstadt“-Inszenierung hangelt sich jedoch zu plan entlang sattsam bekannter Klischees toxischer Männlichkeit.