Foto: Szene aus "Platonow" in der Regie von Barbara Frey am Zürcher Schauspielhaus. © Matthias Horn
Text:Tobias Gerosa, am 18. April 2011
Tschechows „Platonow“ ist ein Erstling, den der Autor eigentlich schon vernichtet hatte. Ganz viele seiner späteren Motive, die ganze typisch Tschechow-Thematik ist aber schon da. Die Aufführung, die Barbara Frey am Schauspielhaus aus dem 170-Seiten-Stück geschaffen hat, dauert drei Stunden, kann die dramaturgischen Schwächen nicht überdecken, ja will das wahrscheinlich gar nicht, schafft aber trotzdem einen großen Ensembleabend.
Dabei läuft zuerst zwei Stunde eigentlich gar nichts und dann wenig. Auf einem Provinzgut trifft sich die Lokalelite mit ihren „besseren Hälften“, wirklichen Anhängseln, um die Zeit totzusaufen: Die junge Generalswitwe, die pensionierten Offiziere (Lambert Hamel und Gottfried Breitfuss), der Arzt (Markus Scheumann mit einer herrlich verknorksten Figur), der unverzichtbare Geldadel und der Dorflehrer Platonow. Alte Geschichten, unerfüllte Sehnsüchte ziehen durch den Raum, an Platonow kristallisieren sie fast alle. Er, der das Versprechen auf eine große politische oder wissenschaftliche Zukunft nicht einlösen konnte und sich nun mit der Rolle des Provinzstars zufrieden geben muss. Immerhin verspricht er in Michael Mertens‘ ambivalent schillernder Darstellung etwas Ahnung der weiten Welt, wird oder macht sich mit seinem alles durchziehenden Zynismus zum Objekt der Begierde aller Frauen, außer seiner eigenen. Maertens ist in seiner abgründigen Komik eine Idealbesetzung. Don Giovanni steckt in ihm, aber auch Hamlet: Verführer und Zögerer, Zyniker und Getriebener. Seine ahnungslose Frau (Ursula Doll) lässt er Sacher-Masoch lesen, während er die alte Liebe zu Sofja Jegorwna wiederbelebt – Yvon Jansens Figur wehrt sich nur oberflächlich dagegen.
Das endet bös, für Illusionen oder nur Pläne ist kein Platz: Wie in den „Drei Schwestern“ bleibt die Großstadt ein Traum und wie im „Kirschgarten“ wird das Gut verscherbelt. Bettina Meyers Bühne schafft dafür einen stimmigen Rahmen. Ihr halbrunder Einheitsraum mit Oberlicht könnte Foyer einer heruntergekommenen Jugendherberge oder eine Tiefgarage sein. Er öffnet sich ein einziges Mal, doch das Eisenbahngleis ist nicht Fluchtweg, sondern Ort für den Selbstmordversuch. Er wäre ein Ausweg, sogar der scheitert.
Die Schauspielhausdirektorin Barbara Frey führt Regie, subtil, fein und mit Sinn dafür, dass hier oft das Gegenteil davon gesagt wird, was die Figuren meinen. Sie hat sich um Maertens und der bestechenden Friedrike Wagner als vielschichtiger, in fast allem als Gegenpol funktionierender Anna Petrowna ein Ensemble zusammengestellt, das schlicht und einfach stimmt. Sie hat die vier ausufernden Akte gekürzt und mit der im Ton lakonischen Übersetzung von Werner Buhss textlich eine Wahl getroffen, welche die Personen nah ans Heute holt. Wunderbar, wie die Inszenierung den Abend rhythmisiert und zwischen Bonmots und klaffenden Leerstellen pendelt. Frey lässt den Zuschauer drei Stunden auf dem schmalen Grat zwischen (textlicher und szenischer) Komik und den Abgründen schwanken. Man verfolgt die Figuren auch da mit größtem Interesse, wo das Stück in der zweiten Hälfte nach Boulevard-Manier nur noch kurze Rein-Raus-Zweierszenen aneinanderreiht. Man verzieht es dem 18-jährigen Tschechow.