Foto: Doppelter Dichter und seine Gestalten in "Der Untergang der Titanic" am Theater an der Ruhr © F. Götzen
Text:Detlev Baur, am 20. September 2019
Die Lage ist dramatisch, das Klimakabinett kreist, Fridays for Future ruft heute zum weltweiten Streik auf und die Theater engagieren sich inhaltlich stärker fürs Klima, auch wenn es heute kaum zum Mitstreiken reicht. Die gestrige Premiere zum Spielzeitauftakt am Theater an der Ruhr in Mülheim ist in dieser Atmosphäre das Stück der Stunde: „Der Untergang der Titanic“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1978 ist nicht nur thematisch, sondern auch formal up to date.
Dabei lehnt sich diese „Komödie“ als Versepos – heute heißt das eher Textfläche – zeitlich auch zurück, an Dantes „Göttliche Komödie“. Enzensberger beschreibt nicht nur den unmerklichen Zusammenstoß des Dampfers mit dem Eisberg („Der Aufprall war federleicht.“) und die Absurditäten auf dem sinkenden Schiff bis hin zum Untergang und der Situation in Rettungsbooten. Als weitere Ebenen nutzt der Autor seine Reise ins revolutionierte Kuba des Jahres 1969 und seine Arbeit am Text im Jahr 1978. Im Zentrum des sprachlich und gedanklich so klaren wie differenzierten Stückes steht nicht die Katastrophe an sich, sondern vielmehr der „menschliche“ Umgang mit ihr: Hybris im Vorfeld, Verdrängung, Erinnerung, Kristallisation gesellschaftlicher Machtgefüge im Angesicht des Unglücks, aber auch seine mediale Umgestaltung in Filmen oder in der Dichtung werden auf den drei Zeitebenen durchgespielt.
Der Inszenierung von Philipp Preuss gelingt es eindrucksvoll, Enzensbergers Ton zu treffen und auf die Bühne zu übersetzen. 70 Zuschauer sitzen auf einer Tribüne inmitten der Bühne. Zwei Enzensberger-Figuren (Rupert J. Seidl und Günther Harder) führen in das Erinnerungsspiel ein, dann beginnt die Tribüne sich zu drehen. Knapp zwei Stunden lang fast ohne Unterlass dreht sich das Publikum im Kreis, sieht an den Seiten, vor der Rückwand des Theaterraumes und im teilweise erhaltenen eigentlichen Zuschauerraum (Raum: Ramallah Aubrecht) Gestalten aus dem Krisenszenario vorbei ziehen: Passagiere, ein Kapitän, Gespenster, Revolutionäre, Tote, den Dichter Dante (Simone Thoma).
Teilweise springen sie auf das kreiselnde Zuschauerschiff auf, laufen mit oder verschwinden zwischen Lammettafäden an den Seiten. Zwei Musiker an Keyboard und Schlagzeug funken dazwischen, geben insgesamt aber einen eher loungeartigen, unpassend entspannten Klangteppich dazu (Kornelius Heidebrecht), bis auch sie auf der allerletzten Drehung verschwunden sind. Das Ensemble (neben den oben Genannten auch Petra von der Beek, Dagmar Geppert, Gabrielle Weber, Albert Bork, Klaus Herzog, Fabio Menéndez und Steffen Reuber) schafft es im Lauf der Inszenierung immer besser die Dringlichkeit des Untergangs mit lakonischem Ton zu verbinden. So gelingt es Preuß und dem Ensemble den „Untergang der Titanic“ sprachlich, oft chorisch, eindringlich zu gestalten und als gut rhythmisierte Untergangsshow die Zuschauer nicht nur äußerlich in Bewegung zu bringen.
Während der Premiere widerfuhr dem Theater übrigens eine kleine technische Katastrophe, die zwar den Spielfluss störte, aber konzeptionell-ironisch wundersam zum Drama passte. Der Drehmechanismus der Tribüne hatte Schaden genommen, so dass die Vorstellung nach einer halben Stunde unterbrochen wurde. Die Hälfte des Publikums wurde daraufhin gebeten, nicht mehr das drehende Theaterschiff zu besteigen, sondern mit Menü und Gratiskarten für spätere Vorstellungen Vorlieb zu nehmen. Im zweiten Anlauf lief das in seiner gedanklichen Souveränität beeindruckende Szenario einwandfrei ab. „Der Untergang der Titanic“ in Mülheim wird nicht die Welt retten, aber er hilft bei der Auseinandersetzung mit der fatalen Situation der Menschheit. Ohne Alarmismus, nachdenklich, rückblickend, vorausschauend.