Foto: Ensemble-Mitglieder des Balletts Basel in "Der wunderbare Mandarin / Herzog Blaubarts Burg" © Matthias Baus
Text:Regine Müller, am 4. Dezember 2022
Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ ist nicht gerade ein Repertoire-Klassiker, aber derzeit offenbar das Stück der Stunde: An der Rheinoper war das nur knapp einstündige Werk ohne Zweitstück im zweiten Pandemieherbst zu sehen, auch die Essener Aalto-Oper zeigte die Oper für sich stehend. In Salzburg inszenierte Romeo Castellucci im Sommer einen Doppelabend, der den „Blaubart“ mit Carl Orffs „De temporum fine comoedia“ zusammensperrte. In Wuppertal wagte man die verblüffende Kombination von Bartóks Opern-Ungetüm mit Richard Strauss‘ Vorspiel zu „Ariadne auf Naxos, während in Hagen Intendant Francis Hüsers Bartóks symbolistische Rätseloper mit seiner späteren Ballettpantomime „Der wunderbare Mandarin“ zu einem Doppelabend verquickt hat. Und nun folgt am Theater Basel Christof Loy mit der erneuten Kombination dieser beiden so unterschiedlichen Bartók-Werke, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, mit Ergänzungen und einer viel stärkeren Verschränkung als in Hagen.
Die aktuelle Hochkonjunktur von Bartóks sperriger Oper erstaunt auf den ersten, freilich oberflächlichen Blick, denn das Sujet – ein Frauenmörder verbietet seiner von Neugier getriebenen jüngsten Gemahlin, die verschlossenen Türen seiner Burg zu öffnen, hinter deren letzter er womöglich ihre getöteten Vorgängerinnen versteckt hat – nicht gerade ein fortschrittliches Frauenbild zu transportieren scheint.
Dass es in beiden Werken und vor allem in Bartóks machtvoller Tonspur jedoch um viel mehr als geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen und symbolistische Zeichenspielchen geht, sondern um anthropologische Grundkonstanten und Widersprüche, zeigt nun Christof Loy in seiner grandios verdichteten, formal und handwerklich makellosen Verschränkung beider Werke, bei der er sich ganz selbstverständlich auch als Choreograf versteht.
Spannende Widersprüche
Wer Loys Arbeit kennt, weiß, dass er schon immer Sängerinnen und Sänger physisch stark fordert und mehr als andere Opernregisseure die Musik ein Eigenleben in den Körpern der Singenden führen lässt – das mitunter dem gesungenen Libretto-Text auch widerspricht. Damit erzeugt er in seinen gelungensten Arbeiten eine dialektische Spannung auf der Bühne, die diese Inszenierungen „abheben“ lässt. Wenn nämlich das Kunststück gelingt, das emotionale Geschehen physisch erlebbar zu machen, und sich zugleich im Bemühen nach äußerster Reduktion und Wahrhaftigkeit eine Transzendierung ereignet, eine erleuchtende Distanz bei maximaler Dringlichkeit.
In Basel gelingt genau das nun auch deshalb, weil Loy die Ballettpantomime und die Oper durch den gesprochenen Prolog zu „Herzog Blaubarts Burg“ (der meistens gestrichen wird) aneinanderkoppelt, denn er lässt ihn durch einen „jungen Dichter“ zwei Mal sprechen.
Der Abend beginnt mit diesem ungarisch gesprochenen Monolog, der in knappen Worten die Begegnung zwischen den Menschen auf der Bühne und denen im Zuschauerraum beschwört, und dann beginnt fast unmerklich und mit den letzten Sätzen zusammenfließend die rätselhafte Ballettpantomime „Der wunderbare Mandarin“, die nach ihrer Uraufführung 1927 in Köln vom Oberbürgermeister Konrad Adenauer abgesetzt wurde, weil man das Sujet, das im Rotlichtmilieu spielt als skandalös empfand: Ein junges Mädchen wird gezwungen, Freier anzulocken, die dann von den Zuhältern ermordet und ausgeraubt werden. Der Mandarin aber kann selbst nach wiederholten Mordversuchen nicht sterben, erst, als das Mädchen ihn in die Arme nimmt, findet er Erlösung im Tod.
Begehren und Gewalt
Márton Ágh hat vor nachtschwarzem Hintergrund eine Reihe von Holzhütten ohne Fenster und Türen auf turmhohe Pfähle gesetzt. Links vorne steht eine einsame Telefonzelle aus der heute biblisch erscheinenden Welt vor der mobilen Kommunikation. Atemlos rennt eine junge Frau in rotem Kleid (Carla Pérez Mora) und schwarzen Overknees von Links nach Rechts, der junge Dichter (Nicolas Franciscus) fängt sie auf und wirbelt sie herum. Lässt sie los, sie rennt wieder, ein anderer junger Mann fängt sie auf und so geht es reihum mit den drei „Strolchen“ und sich bald einstellenden „Freiern“. Flüchtige Begegnungen, Umschlingungen, bei denen Übermut in Übergriffen mündet, plötzliche Zärtlichkeiten aufbrechen und unvermittelt in Gewalt umkippen.
Der Mandarin (Gorka Culebras) erscheint und löst in allen Beteiligten ein seltsames Begehren aus. Die Strizzis scheinen von seiner Seriosität angesprochen, ebenso das Mädchen, zunehmend aber wehren sie die Faszination durch Aggression ab. Das Mädchen scheint mal teilnahmslos, wie gelähmt, wendet sich ab, um dann wieder Zärtlichkeiten zu äußern. Ein rasendes Crescendo der Gewalt nimmt seinen Verlauf mit scheinbar tödlichem Ausgang für den Mandarin.
Dann aber lässt Christof Loy, wiederum mit unmerklichem Übergang einen im Original nicht vorgesehenen Epilog folgen: „Auferstehung“ nennt er das Anhängsel, zu dem das Mädchen und der Mandarin den ersten waschechten Pas des Deux des Abends mit Bewegungselementen des klassischen Balletts auf den ersten Satz aus Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ tanzen. Eine magische Musik, aufgebaut auf einer strengen Fuge, die aus einer grauen, fernen Welt zu kommen scheint und im Kontrast mit der schneidend rhythmischen, rau gezackten Musik des „Mandarin“ ähnlich vergeistigend wirkt wie ein Bach-Choral nach aufwühlenden Turba-Chören in den Passionen.
Zwischen Tanz, Oper und Schauspiel
Der zweite Teil beginnt dann wieder mit dem Prolog, die Pfähle der verschlossenen Hütten sind nun offenbar eingesunken, auch von der Telefonzelle guckt nur noch das Dach aus dem Boden hervor. Die große Evelyn Herlitzius kommt als Judith barfuß und im schwarzen Kleid herein wie die ältere Schwester des Mädchens (das zuletzt auch Schwarz trug), und auch Blaubart sieht dem Mandarin im seriösen Zwirn mit Bart nicht zufällig ähnlich. Im Libretto bittet Judith Blaubart, sieben Türen in der Burg zu öffnen, die symbolisch für seine verschlossenen Seelentüren stehen mögen.
In Basel gibt nun weder Türen noch Schlüssel, das Ringen des Paares geht hier einzig und allein um den archaischen Konflikt zwischen einem Mann, dem unmöglich ist, von sich zu sprechen und einer Frau, die das aber bedingungslos einfordert. Christof Fischesser ist dieser Blaubart, dem bei Loy nichts Unheimliches eignet, sehr wohl aber eine emotionale Vergletscherung, gegen die weder er selbst noch die leidenschaftlich insistierende Judith ankommen.
Loy fordert von dem Duo den gleichen physischen Einsatz wie von dem tanzenden Personal, in der physischen Präsenz stehen beide Teile einander in nichts nach. Je verzweifelter Judith fordert, desto unbarmherziger wachsen die Hütten auf ihren Pfählen wieder Richtung Bühnenhimmel und werden unerreichbar.
Und nebenher wird auch gesungen – im Ernst, man vergisst an diesem Abend, die Sphären von Gesang, Spiel und Tanz zu trennen. Evelyn Herlitzius bändigt ihren hochdramatischen Sopran klug, der Stimme ist ihre lange Karriere im schweren Fach kaum anzumerken. Christof Fischesser beglaubigt den schillernden Blaubart mit kernigem Bariton und einer Spielwut, die seiner Partnerin ebenbürtig ist. Ivor Bolton leitet im Graben das Sinfonieorchester mit größter Umsicht und trägt das Geschehen souverän und mit viel Sinn für Farben und subtile Stimmungen über die stilistischen Brüche aus Bartóks unterschiedlichen Schaffensperioden hinweg. Ein durch und durch packender Abend, der spontane Bravi erntete.