Tochter und Mutter: Linda Pöppel und Barbara Schnitzler im neuen "MIssverständnis" am Deutschen Theater Berlin

Kein Schiff wird kommen

Albert Camus: Das Missverständnis

Theater:Deutsches Theater Berlin, Premiere:03.12.2017Regie:Jürgen Kruse

Gerade für die treueren Begleiter hält der Regisseur Jürgen Kruse, eines der unerhört raren echten Unikate im deutschen Theater, bei der Rückkehr nach Berlin ein paar erstaunliche Überraschungen parat. Zum einen und einfachsten den Ort der Wiederbegegnung – immerhin war in jüngster Zeit Oliver Reese in Frankfurt der letzte gewesen, der Kruse die Treue hielt. Überall sonst war die Zusammenarbeit stets viel zu bald beendet worden. Auch zur Jahrtausendwende in Hamburg beim damaligen Thalia-Chef Ulrich Khuon; aber an dessen aktuellem Haus in Berlin, am Deutschen Theater (genauer in den Kammerspielen), und eben nicht an Reeses neuem Berliner Ensemble hat Jürgen Kruse jetzt gearbeitet. Einmal mehr übrigens wie schon vor zwanzig Jahren in Bochum an der finstren Familien-Saga „Das Missverständnis“ von Albert Camus, die (wie einige andere Stücke) dauerhaft auf Kruses To-do-Liste steht. Doch auch die Art der Annäherung an diese psychologische Höllenfahrt ist Überraschung pur.

Denn all die handelsüblichen Einwände gegen Kruses Handwerk (zu verspielt und verantwortungslos im Umgang der Sprache, zu fahrig und unordentlich in der Dramaturgie, zu unübersichtlich in den Bildern, zu reich an Soundtrack und Musik und so weiter und so fort) gehen vor dem neuerlichen Versuch mit Camus ins Leere. Zu bestaunen ist jetzt der ganz und gar ernsthafte Versuch, den Dimensionen dieses kaum irgendwo sonst als bei und von Kruse ergründeten Material tatsächlich auf die Spur zu kommen. Was immer an „Unordentlichkeit“ auch diesen Abend durchzieht, ist vollständig der Ab- und Untergründigkeit des Textes selbst geschuldet; kein Wortspiel (von denen es natürlich immer noch reichlich gibt), das nicht der dramatischen Behauptung folgte, wie sie geschrieben steht bei Camus.

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Die erzählt von einer extrem existenziellen „Mother-and-child-Reunion“; Paul Simons Song von 1972 führt übrigens erst nach Ende der Vorstellung durchs Foyer der Kammerspiele in die Premierenfeier… Nachdem wir Martha und ihre Mutter kennengelernt haben, die Hotelbetreiberinnen, deren sehnlichster Wunsch der Abschied von dieser Kaschemme ist und die mit diesem Ziel seit geraumer Zeit durchreisende Einzel-Gäste erst betäuben und dann im Fluss nebenan ertränken, treffen Jan und Gattin Maria ein; der Mann ist der verlorene Sohn, der Mutter und Schwester wieder treffen will. Und weil er das will, bezieht er (trotz ahnungsvoller Einwände der Gemahlin) allein Logis bei den Verwandten. Die, speziell Martha, aber auch die Frau Mama, fühlen sich zwar immens angezogen vom neuen Gast, gehen aber letztlich mit ihm um wie mit allen anderen; sie bringen ihn um – die Tochter mutwillig (sie hat Jans Pass gesehen), die Mutter ahnungslos.

Dem schauerlichen Finale (wenn eine Art Toten-Gott auch noch Martha holt nach dem Selbstmord der Mutter) hat Kruse ein paar Traumspiele angehängt: Jan kommt als eine Art Engel mit Schmetterlingsflügeln zurück, Maria holt eine brabbelnde Baby-Puppe aus dem Koffer und hält sie im Arm… Was-wäre-wenn-Spiele sind das, die der Fabel nichts nehmen von der Finsternis. Der Mann aus dem Hades, der die Toten holt, sitzt die ganze Zeit schon an der Rezeption und wirft alle paar Minuten, hörbar oder nicht, das Kernwort ins Spiel: Existenzialismus.

Und ausgerechnet bei Kruse, quasi theaterlebenslang der Oberflächlichkeit bezichtigt, bekommen wir überreichen Anlass, den existenzphilosophischen Gedanken zu folgen, die untergebracht sind im Stück – vor allem in den mäandernden Schmerzensmonologen der Tochter, die im abgründigen Rundum-Hass das erfahrene eigene Leiden der Welt, wie sie ist, ins gelangweilte Gesicht schießen will. Umso erregender und vollkommen erotisch wirkt gerade darum die plötzliche Annäherung zwischen Schwester und Bruder: beim Wäschelegen! Hier zählt jeder Moment, jedes Detail, jede Bewegung – wann wäre gerade eine Kruse-Arbeit derart konzentriert geraten?

Auch der Soundtrack (aus der wirklich legendären Plattensammlung des musikvernarrten Regisseurs) kommt klar und handfest auf den Punkt; zu Beginn wechseln die Musikschnipsel gar per Axthieb auf den Holzhackerblock: Cut! Wie herrlich ernst zu nehmen das ist… mit Wolf Biermann („Vom Himmel auf die Erden/fall’n sich die Engel tot!“) geht’s per Axthieb zu Dylan und „Tambourine Man“, in schauerlich deutscher Fassung. Immer wieder wird die Hotel-Atmosphäre in den „Fahrende Musikanten“-Song von Nina & Mike fokussiert; und mit Camus-Pappen vor den maskierten Gesichtern tobt eine Jugend-Gang herein, mit der Hitparade vergangener Jahrzehnte lärmend auf den Lippen. Denn natürlich ist und bleibt der Kosmos dieses Abends typisch Kruse, kein Zweifel – aber der Regisseur erklärt sich mit vollem, klaren Bewusstsein; und eben mit Camus.

Ein Schauspiel-Fest ereignet sich obendrein: mit Linda Pöppels strahlend-finstrer Schwester Martha und Manuel Harder aasig-selbstbewusstem, gegen alle Ängste gefeiten Bruder Jan. Er ist neu am DT: was für eine Bereicherung für Berlin! Barbara Schnitzler wirft alles in die müde Mutter des Stücks, und Alexandra Finder als letztlich träumende Witwe mit Kind wird gar zur Entdeckung. Marion Rommel ist eine gefragte Souffleuse mitten im Spiel, Jürgen Huth kämpft eindrücklich mit dem ewigen „Existenzialismus“, Anne Makosch fegt abendfüllend Volker Hintermeiers Kruse-typisch vollgestellte Bühne: mit Hotel-Rezeption, Globus (den gibt’s immer bei Kruse), leeren Wein- oder Absinth-Flaschen und einer Lampe, deren Schirm noch einmal die Welt und die Kontinente zeigt.

Was für eine Theater-Beschwörung – voller kleiner Kostbarkeiten stecken diese zwei Stunden mit Camus. Mit und durch Kruse weiten sie sich zu existenziellen Horizonten. Kein Schiff wird kommen und hier irgendwen erlösen.