Foto: Anja Kampe als Brünnhilde in der "Götterdämmerung" an der Berliner Staatsoper. © Monika Rittershaus
Text:Matthias Nöther, am 10. Oktober 2022
Der Regisseur Dmitri Tcherniakov verweigert in der Staatsoper Unter den Linden ziemlich konsequent, Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ anhand der Zaubereien und Magie zu erzählen, die den Zyklus an Schlüsselstellen eigentlich immer wieder zugleich episch und mit romantischer Kraft tragen. Teilweise befremdet dieser Zugang, weil Tcherniakov auch die entscheidenden Symbole Wagners links liegen lässt – und sie dann, wenn sie wirklich vonnöten sind, durch die Hintertür wieder hereinkommen: das Schwert Notung? Steckt in der Wand von Hundings Zweizimmerwohnung. Siegmund (etwas farblos gesungen von Robert Watson) muss es herausziehen und kann damit aber wenig anfangen, weil Hunding eine Pistole besitzt. Um solche Unlogik nicht szenisch durchexerzieren zu müssen, wird der Zweikampf im zweiten Akt der „Walküre“ ins Off verlegt. Für seinen Sohn und auserwählten Helden Siegmund interessiert sich Gott Wotan sowieso nicht mehr: Der wird auch keineswegs von Hunding getötet, sondern von einem russisch anmutenden, schwarz behelmten Schlägertrupp in das Gefängnis gesteckt, aus dem er zuvor mit Wotans Hilfe geflohen ist.
Wenn die „Winterstürme dem Wonnemond“ weichen, verändert sich auf der Bühne … nichts. Tcherniakov kann mit der sinnlichen Seite von Wagners Gesamtkunst-Bühne wenig anfangen. Als Wotan sich als Wanderer im „Siegfried“ dem im blauen Trainingsanzug herbeischlurfenden, arbeitslosen jungen Mann in den Weg stellt, ist der Speer der Verträge plötzlich von Nöten – über zwei Abende war er nirgends zu sehen. Der Wanderer holt ihn aus einem Aktenschrank und lässt ihn sich kaputtschlagen. Man hat öfter den Eindruck, dass Wagners Text in den konkret-erzählerischen Details für Tcherniakov längst verwitterte Runen sind, über die man unbeschwert eine neue Geschichte legen kann. Wagners „Ring“ mag kein banales Fantasy-Epos sein – aber für Zauber, Bann, Fluch und Feuer sollte sich auch ein Regisseur im Hier und Jetzt nicht zu fein sein, sonst geht die Geschichte nicht auf.
Sinnliche Musik
Für den sinnlichen Zauber der Wagner-Werke sorgen umso mehr Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle sowie die Ensemble auf der Bühne: Anja Kampe blüht stimmlich als Brünnhilde und kann in der „Götterdämmerung“-Szene mit Waltraute (ein nicht gänzlich überzeugender Gastauftritt der berühmten Violeta Urmana) die langsamen Tempi ihres Dirigenten schlüssig und extrem ausdrucksstark mitgehen. Das hat musikalisch unglaubliche Größe. Andreas Schager bewältigt auch diese zweite kräftezehrende Siegfried-Partie mühelos, sticht allerdings aus dem über vier Abende extrem textsensiblen Ensemble heraus, indem er im dritten Akt des Finales kleine Noten tendenziell unter den Tisch fallen lässt. Der Bass Mika Kartes ist ein gewaltig singender, aber auch präzise und sparsam spielender Hagen. Mandy Fredrich als Gutrune sowie Lauri Vasar als Gunther fügen sich bestens ins Ensemble ein.
Dennoch: Dass der neue „Ring“ in Berlin eine anti-romantische Inszenierung ist, wäre noch zart ausgedrückt. Am letzten Abend der Tetralogie, der „Götterdämmerung“, kann Tcherniakovs Verweigerung des Zaubers zuweilen eine dämonische Wirkung entfalten: Wotan und Erda, Alberich (gewohnt textdeutlich und musikalisch wieder etwas punktgenauer: Johannes Martin Kränzle) und die Rheintöchter wandeln ungefähr 60 Jahre nach dem Raub des Rheingolds nur noch als sehr hochbetagte Rentner durch das allgegenwärtige Forschungszentrum E.S.C.H.E., das Wagners Welt bedeuten soll. In den schick und modern-heutig eingerichteten Büros der riesigen Anlage geben nun die Gibichungen Gunther, Gutrune und Hagen den Ton an. Nachdem der zu ihnen hereinstolpernde Siegfried, nunmehr in normaler Straßenkleidung statt Trainingsanzug, von Hagen manipuliert worden ist, kehrt er zu Brünnhilde zurück. Siegfried hat Brünnhilde durch das Zutun der Gibichungen vergessen und mit Gunther Blutsbruderschaft geschlossen. Ihm will Siegfried nun Brünnhilde als Braut zuführen.
Andreas Schager als Siegfried singt zwar gemäß Partitur bei seinem Ansprechen der perplexen Brünnhilde mit abgedunkelter, quasi „Tarnhelm“-Stimme. Doch als „Gunther verkleidet“, wie Wagner es ursprünglich vorsah, hat er sich nicht. Wie er da kalt und fremd in der Tür der einstigen gemeinsamen Zweiraumwohnung lehnt, ist er einfach ein Anderer. Das kann nicht nur Brünnhilde, sondern auch dem Publikum einen Schreck einjagen. Tcherniakov vertraut dabei ganz den vagen, trügerischen Akkorden und Leitmotiven dieser musikalisch großartig schillernden Szene. „Götterdämmerung“, und damit auch der ganze „Ring“, ist für den Regisseur der Verlust und der Wiedergewinn von Freiheit. Darauf laufen die vier Abende am Ende als Pointe hinaus. Siegfried seinerseits ist nur sehr kurze Zeit wirklich frei, nämlich von Beginn seiner Liebe zu Brünnhilde am Ende der Oper „Siegfried“ bis zu seiner Ankunft im Büro von Hagen und Gunther.
Während der von der Staatskapelle höchst farbig und vielgestaltig gespielten „Siegfried-Rheinfahrt“, dem Zwischenspiel des ersten Aktes, darf Tenor Andreas Schager einmal, ein einziges Mal, jenseits des allgegenwärtigen krakigen Forschungszentrums, das für Tcherniakov die unfreie Welt bedeutet, selig und die Leere genießend auf dem schwarzen Bühnenboden liegen.
Zurück zur Freiheit
In früheren Inszenierungen mag es eine Überraschung gewesen sein, dass der freie Waldjunge Siegfried sich so schnell von einem Fiesling wie Hagen einfangen lässt – in der „Götterdämmerung“ Tcherniakovs überrascht daran gar nichts: Siegfried war nie frei, sondern irrte schon in der nach ihm betitelten Oper ferngesteuert und ohne Lebenssinn durch ein Labyrinth von Büroräumen und Laboren, wie eigentlich alle Figuren in diesem „Ring“.
Nur Brünnhilde wird am Ende den Ausgang aus der Forschungsanstalt finden. Sie wird einen Weg in die beglückende und beängstigende Leere der menschlichen Freiheit gehen. Der Bass Michael Volle wird nochmal stumm als uralter Wotan auftreten, sie wird ihm die Tür weisen: „Ruhe, du Gott“. Mit Siegfrieds einstiger Reisetasche wird sie langsam zu den Klängen des Erlösungsmotivs aus dem Orchestergraben vor der schwarzen Brandmauer der Staatsopernbühne gen Rampe schreiten. An die Rückwand wird dazu eine Variante aus Wagners Dichtung der „Götterdämmerung“ projiziert, die der Komponist nicht vertonte. „Aus Wunschheim zieh‘ ich fort, Wahnheim flieh‘ ich auf immer; des ew’gen Werdens off’ne Tore schließ‘ ich hinter mir zu“, sagt Brünnhilde gemäß diesem Text.
Man hat den Eindruck, dass Tcherniakov mit dieser „Götterdämmerung“ nicht ganz fertig geworden ist, vieles nicht gründlich zu Ende inszeniert hat. Die Betriebssport-Mannschaft um Hagen und Gunther, die am Ende Siegfried ermordet, das plötzlich wieder auftauchende Schlaflabor mit den Rheintöchtern, Gunther allein an Siegfrieds Trage – das alles ist szenisch nicht rund: Es sind teilweise Verlegenheitslösungen eines Regisseurs, dem Wagners traditionelle Symbole nicht recht ins Konzept passen. Doch Brünnhilde einfach alleine in die Freiheit ziehen zu lassen, ist plausibel – und völlig unabhängig von der Tatsache, dass es auf der Bühne sehr einfach darzustellen ist. Damit kehrt Tcherniakov nach dem steilen Beginn des „Rheingold“ mit dem Gedankenraub konsequent zu seiner Idee zurück, Wagners Erlösung als Freiheitsversprechen zu deuten. Eindrucksvoll für die Sinne allerdings ist an dieser neuen, zweiten aktuellen Berliner „Ring“-Inszenierung nur der musikalische Part geraten.