Foto: Szene aus "Amok" am Emma-Theater Osnabrück mit Clemens Dönicke und Dietmar Nieder. © Uwe Lewandowski
Text:Jens Fischer, am 5. Mai 2011
Normal bis zur Auswechselbarkeit. Und faszinierend wie bestes Theater. R. schmückt seinen Namen mit einem schicken Doktortitel, lebt mit schicker Frau plus zwei Kindern in einem schicken Haus, hat eine schicke Geliebte und fährt mit einem schicken Auto wochentäglich zu einem schicken Job bei der WHO in Genf. Das jedenfalls behauptet er. Ganz in echt gibt es R. gar nicht, nicht mal ein richtiges Doppelleben: Er verbringt seine Tage mit Wandern, Zeitunglesen, ziellosem Herumfahren und starrt stundenlang an Hotelzimmerdecken. Sein Medizinstudium hat er nie abgeschlossen, nie einen Job angenommen. Kein Mensch ist, was er scheint. Aber die Familie und Bekannten wollen den Schein glauben, geben R. sogar ihre Ersparnisse, die dieser mit besten Renditeaussichten anzulegen verspricht. So finanzierte er 18 Jahre sein Lebenslügengefängnis – bis jemand sein Geld zurückfordert. Schluss mit Theater.
R. löscht ganz real seine Familie aus, eine Eruption kaltblütigen Mordens. Entsetzen, Abscheu, Sprachlosigkeit, Bändigung des Schreckens durch Anwerfen der Deutungsmaschinerie. Beispielsweise in „Amok“, Emmanuel Carrères Roman über die Kräfte, die einen Menschen zum Äußersten treiben. Diese literarisch vielgestaltige Herangehensweise hat Jan-Christoph Gockel zur Dramatisierung des Stoffs inspiriert. In dem er vor allem Theater entdeckt: eine So-tun-als-ob-Geschichte. Psychothriller über die Bestie Mensch, Tragödie eines gerissenen Betrügers, Porträt einer verlorenen Seele, Bekenntnisse eines Hochstaplers oder Sozialdrama? Alles denkbar. Alles wird angespielt. Zwei Mimen wechseln ständig Perspektiven und Rollen.
In Oldenburg hatte Gockel bereits die Psyche eines Menschen theatral gekonnt erkundet, indem er den Darsteller von Brechts Baal mit einer Marionette all die Ichs ausleben lässt, die dem Möchtegernanarchisten der Alltag nicht gestattet. Nun blickt der Regisseur mit Carrère in das Hirn von R., stellt freche Fragen und überführt die Geschichte im locker improvisatorischen Gestus in eine ironisch gebrochene Groteske über die Absurdität bürgerlichen Daseins, nicht auf-, aber allen gefallen zu wollen. Am Ende sind zwar alle Fragen offen, aber sie lugen fordernd deutlich durch die erfrischende Performance. Wie kumpelhaft auf Augenhöhe mit dem Publikum agiert und wie unaufgeregt uneitel zwischen Spiel, Erzählung sowie dem Reflektieren der Theatersituation und -mittel hin und her gesprungen wird – das beeindruckt. Gockels Theater muss nicht müssen. Es guckt mal was geht. Und es geht sehr viel. Hier entwickelt einer entspannt seine Regiehandschrift, charmant in ihrer hinterhältigen Beiläufigkeit.