Foto: Bluttriefend, aber einfach nicht totzukriegen: Irina Simmes als Adela, umringt vom Chor des Theaters Heidelberg, in Lorenzo Fioronis „Rumor“-Inszenierung. © Florian Merdes
Text:Detlef Brandenburg, am 22. März 2014
Christian Josts Oper „Rumor“ ist ein Vexierspiel, das an seiner Vorhersehbarkeit krankt. Das ist für ein Vexierspiel ja kein kleines Manko. Inspiriert von dem Roman „Der süße Duft des Todes“ des Mexikaners Guillermo Arriaga, der als Filmregisseur mindestens so bekannt wie als Autor, erzählt Jost nach einem eigenen Libretto vom Mord an dem süßen Mädel Adela und von der Liebe des jungen Ramón, die absurderweise erst so richtig erwacht, als er die Schöne, die er zuvor nur flüchtig kannte, erstochen auf dem Feld findet. Er erliegt also tatsächlich dem süßen Duft des Todes. Doch diese Passion passt ebenso wenig ins festgefügte Weltbild der mexikanischen Dörfler wie die Tatsache, dass möglicherweise einer der Ihren, ein verheirateter Mann, der ein Verhältnis mit Adela hatte, auch ihr Mörder sein könnte. Vielmehr ist für sie klar: Gitano muss es gewesen sein, eine Art Outlaw und Herzensbrecher, einer von woanders. Und Ramón, so glauben sie zu wissen, liebt die tote Adela, weil sie schon zu Lebzeiten seine Geliebte war. Diese Gerüchte aber – das lateinische Wort für Gerücht ist „rumor“ – bekommen eine solche Macht, dass Ramón sie am Ende selber glaubt und sich unter dem Druck sieht, den Mord an seiner „Geliebten“ an deren „Mörder“ Gitano zu rächen.
Jost interessiert hat an diesem Plot offenbar vor allem das Thema von der Macht der Meinung über die Realität und die daraus resultierende Relativität von Wahrheit. Deshalb de-personalisiert er viele Figuren, nimmt ihnen die Namen, die sie bei Arriaga haben, und überhöht sie ins Archetypische: Aus Gitano wird „Der Fremde“, seine wirkliche Geliebte heißt nur mehr eben „die Geliebte“, die Protagonisten der Meinungsbildung im Dorf sind „Der Alte“, „Der Schlachter“, „Der Jäger“, „Die Gefährtin“. Er verknappt den Roman auf ein musikalisches Stationendrama von filmischer Dramaturgie (scharfe Schnitte, Parallelszenen), eine Oper in fünfzehn Bildern für ein konventionelles, mittelgroßes Sinfonieorchester. Und er richtet den Fokus stärker als der Roman auf den Helden Ramón, zeichnet minutiös nach, wie sich ausgerechnet er, der es ja anders wissen müsste, in die Phantasie einer Liebesgeschichte hineinsteigert, die nie stattgefunden hat, so dass Adela hier in imaginierten Erinnerungsbildern eine Präsenz gewinnt, die sie weder im Roman hat noch in einer jenseits der Gerüchte verbürgten Realität.
Das allerdings – und daran krankt Josts Vexierspiel – wird sehr bald sehr vorhersehbar. Es hätte daraus eine Parabel auf jene Abgründe von Brutalität, Perversion und zynischer Verlogenheit hinter den Fassaden amerikanisch-provinzieller Kleinbürgerlichkeit werden können, die wir aus Filmen von David Lynch oder Romanen von Cormac McCarthy kennen. Aber Jost verpasst die Abzweigung auf den Lost Highway und bleibt bei einer allzu plausiblen Psychopathologie des Gerüchts. Und wenn man den Kritiken glauben darf, dann vermochte auch Guy Joostens Uraufführungs-Inszenierung 2012 in Antwerpen dem Werk keine weitere Dimeansion zu erschließen. Es ist das große Verdienst des Regisseurs Lorenzo Fioroni, dass er bei der deutschen Erstaufführung von „Rumor“ am Theater Heidelberg die von Jost gelegten Spuren zwar aufnimmt – aber sehr viel weiter auszieht als Jost selbst, bis in eine bizarre Phantasmagorie provinzieller Fremdenangst, Mordlust und sexueller Obsession.
Zu Anfang ist Kostümfest. Ralf Käselau hat eine unheimlich hinterwäldlerische Drehbühne für den Dorfschwoof aufgeschlagen, die Kostümbildnerin Sabine Blickenstorfer hat die Dörfler in bunte Cowboy- und Indianerverkleidungen gesteckt, sie haben sich bunte Tüten über den Kopf gezogen, damit die Party in der Anonymität um so wilder toben kann. Und plötzlich liegt da eine schöne Leiche auf dem Festplatz. So bricht mit dem Tod das wirkliche Leben in die Scheinwelt des Festtrubels – glaubt man. Doch plötzlich erhebt sich die blutige Tote schlotternd zu neuem Leben, was den Dörflern gar nicht passt, denn die waren schon munter dabei, ihre Geschichte von Liebe, Mord und Totschlag um die Gemeuchelte zu stricken, da stört es nur, wenn das Mädel gar nicht richtig tot ist. Also ballert sie „Der Jäger“ gleich nochmal über den Haufen. Immer wieder wird Adela in dieser Aufführung blutüberströmt auferstehen, immer brutaler wird sie erwürgt, mit dem Messer geschlachtet, totgeschlagen – dies ist kein Land für tote Mädchen. Und keins für Außenseiter. Denn auch der Dorfdepp, den sie „Stier“ nennen (und der laut Libretto wirklich ein Rindvieh ist), wird von den Dörflern brutal abgeschlachtet. Und wenn sich die Geschichte in Josts Libretto totzulaufen droht, dreht Fioroni sie kühn wieder auf Anfang: Erneut ist Kostümfest, wieder liegt da eine Leiche, Adela geistert weiter als blutüberströmte Wiedergängerin über die Bühne, wird wieder gemordet, das macht zusammen mit dem Stier bereits drei Leichen. Und als Ramón „Den Fremden“ zur Strecke bringt, da sind es deren vier.
Das alles ist blutig und brutal, aber auch erfrischend frech und wunderbar überdreht – eine kühn zwischen Krimi, Gruselschocker, Mysterythriller und Massenpsychogramm wirbelnde Phantasmagorie. Und ein im wahrsten Sinne des Wortes toller Opernabend, der getragen wird vom umwerfenden darstellerischen Elan der Sänger, vor allem von der phantastischen Bühnenpräsenz der Sopranistin Irina Simmes als Adela, die vor keiner bluttriefenden Entäußerung zurückschreckt und dabei in keinem Moment peinlich bemüht wirkt, sondern den Irrwitz mit einer traumwandlerischen Selbstverständlichkeit zelebriert: eine große Leistung, auch vokal. Jost schreibt zwar sängergerecht wie stets, aber die Partie verlangt Agilität und Wendigkeit, und das meistert Irina Simmes mit Bravour. Ihre Stimme kann soubrettenhaft perlen, verfügt aber auch über eine wunderbare Legato-Lyrik und einen leuchtend hellen Fokus, der mühelos über dem Orchester strahlt.
Auch Namwon Huh ist als viriler, stabiler und schlanker Ramón absolut rollendeckend, James Homann ist ein „Fremder“ von beeindruckender Baritonwucht, Anna Peshes eine „Geliebte“ mit großem Mezzo, Wilfried Staber ein markant und schwarz gezeichneter „Alter“ – wieder einmal ist es erstaunlich, wie es das Theater Heidelberg unter seinem Operndirektor Heribert Germeshausen schafft, selbst so anspruchsvolle Werke tadellos durchzubesetzen. Auch der hier extrem geforderte, teils solistisch geführte Chor vollbringt, einstudiert von Anna Töller, eine echte Bravourleistung
Yordan Kamdzhalov, Heidelbergs scheidender Generalmusikdirektor, dirigiert diese Partitur, als wäre in Christian Jost Richard Strauss wiedergeboren: klangschwelgend, expressiv, oft reichlich laut und metrisch bisweilen verschwommen. Das klingt nicht schlecht, Josts Musik bedient sich ja gern in Allusionen und Zitaten bei der Tradition. Ein mindestens ebenso wichtiges Charakteristikum aber ist ihre kontrastreiche Strukturiertheit. So wie das Libretto immer wieder Fährten legt und dann negiert, so setzt auch die Musik immer wieder Prozesse in Gang, die in abruptem Kontrast abbrechen. Diese Differenzierungen aber, auch Josts fast kristallin klare Strukturen: Das fällt bei Kamdzhalov glatt unters Notenpult. Er dirigiert diese Partitur wohlklingend, aber unter Wert. Dem Publikum war’s recht, es feierte alle Beteiligten begeistert. Und die Oper Heidelberg hat manch größerem Haus wieder einmal gezeigt, was Mut und Professionalität in der Provinz vermögen. Chapeau!
Termine: 28. März, 1.|17.|28. April, 18. Mai