An diesem Abend bleibt es nicht bei gymnastischen Bewegungsabfolgen und getanzten Sequenzen, es wird gleichzeitig eine Menge gesprochen, auf Englisch, Französisch, Deutsch und Chinesisch. Ohne die Bewegungen zu unterbrechen, werden tanzgeschichtliche Ausflüge in die Vergangenheit gemacht und wir erfahren einiges über die Ursprünge des modernen Tanzes: Angefangen mit den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Emile Jacques-Dalcroze in Hellerau bei Dresden eine „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus“ gründete, wo die Rhythmische Gymnastik einen ganzheitlichen Ansatz verfolgte. Weiterhin bekommen wir Informationen über die deutsche Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert, die im Hinblick auf Emanzipation und weibliche Unabhängigkeit mit ihren Auftritten in den 20er Jahren in der Tanzästhetik Änderungen begründete. Und Josephine Baker wird erwähnt, die, obwohl sie aus den USA kam, in Paris mit einem afrikanischen Tanzpartner als Afrikanerin „inszeniert“ wurde.
Es geht in diesem Stück aber nicht vordergründig um die Anfänge des modernen Tanzes; es geht vor allem um Kategorisierungen, um Erwartungen und deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung. Eine Tänzerin spricht über die Rhythmische Gymnastik der 60er Jahre – eine Sportart für Frauen. Sie sollte 500 Gramm abnehmen, sonst sehe sie aus wie eine Kuh auf dem Eis und könne keine Karriere als Tänzerin machen. Ihr Fazit: „Let’s change this!“
Ein Tänzer in einem raschelnden papierartigen Kleid berichtet, dass man ihm immer wieder sagt, seine Bewegungen wären feminin. Für ihn selbst sind diese Bewegungen weder feminin noch maskulin. Die Gesellschaft kategorisiert seinen Tanzstil. Ihm geht es aber darum, seine Gefühle und sich selbst auszudrücken. Er tauscht sich mit einem anderen Tänzer über diese Vorgaben, wie man sich bewegen, verhalten, anziehen soll, aus – lauter Begrenzungen und Einschränkungen, die sich gegen jede Individualität richten. Zwei andere Tänzer sprechen darüber, dass es für viele Menschen ein abwegiger Gedanke sei, wenn ein heterosexueller Mann Tänzer ist.
Ein Schwarzer Tänzer berichtet, dass es in der afrikanischen Öffentlichkeit ganz normal ist, wenn männliche Tänzer mit jedem Körperteil tanzen. In Deutschland dagegen empfänden viele Zuschauer das als feminin oder hielten es für Ironie.
Eine Sequenz zeigt die Tänzer*innen in Kostümen mit zu langen Ärmeln und Beinen, was die Körper größer wirken lässt. Einer der Tänzer berichtet, sie seien „Tanzarbeiter“, die dort arbeiten, wo sie bezahlt werden. Tänzer seien gefährlich: Sie sind leidenschaftliche Arbeiter des Tanzes. Wenn das nicht geht, arbeite er als leidenschaftlicher Feuerwehrmann. Wieder werden wir darauf hingewiesen, dass wir mit unseren Vorurteilen und Kategorien vorsichtig sein müssen: Den Mann, den wir gestern Abend auf einer Bühne tanzen gesehen haben, sehen wir heute vielleicht bei einem Feuerwehreinsatz. In dieser Szene werden gleichzeitig Aufnahmen, die von oben und vom vorderen Bühnenrand aus gefilmt werden, übereinander projiziert. Wir hören das Rascheln der Kostüme und fühlen uns fast, als wären wir zwischen den Tänzern auf der Bühne. Dann hören wir den Satz „Keep irritation!“ und verstehen, dass es genau darum geht: die Irritation zuzulassen und nicht nach Kategorien zu suchen.
Der Musiker Hans Unstern befindet sich mit den Tänzern auf der Bühne und spielt auf einer selbst gebauten Harfe, singt und erzeugt elektronische Klänge. Seine Texte sind teilweise gespickt mit Metaphern und dann wieder dadaistisch. Musikalisch mal kitschig gefällig, mal sphärisch elektronisch. Auch hier sollte man die Finger von Kategorisierungen lassen.
Die Tatsache, dass es eine gestreamte Produktion ist, macht eine Menge mit dem Verhältnis zwischen Tänzer*innen/Akteur*innen und Zuschauer*innen: Die Kamera ist teilweise so nah an den Tänzern, dass wir fast den Eindruck bekommen, mit uns würde getanzt. Wir werden scheinbar zu Tanzpartnern. Am Ende tanzt einer der Tänzer tatsächlich mit der Kamera in seinen Händen und sieht uns direkt an. Dann legt er eine Hand auf die Kamera und beendet so die Aufführung.