Foto: Mitglieder des Berliner Grips Theaters in "Linie 1" © David Baltzer | bildbuehne.de
Text:Erik Zielke, am 2. April 2023
Über die Bühne laufen und tanzen die Spielerinnen und Spieler – in Trainingsjacken und bunten Karottenhosen, mit Vokuhila und Oberlippenbärten. Extravagant, aber ohne Eleganz. Hipster aus Berlin-Neukölln, wohin man sieht, könnte man meinen. Dazu erklingt die Live-Musik der Band No Ticket, mal mit zu viel Pathos versehen, mal im Gestus unbeirrbarer Unterkühltheit gesanglich begleitet. Hat Regisseur Tim Egloff für seine Neuinszenierung des Jugendtheaterklassikers am Grips Theater in Berlin also Volker Ludwigs „Linie 1“ ins Heute übersetzt? Aber nein, er hat nur den Beweis erbracht, dass die 80er-Jahre ästhetisch noch lange nicht vorbei sind, sondern wie Untote das Hier und Jetzt aufsuchen.
Es ist ein hübscher Witz der Aufführungsgeschichte von „Linie 1“, dass Ludwig mit seinem Stück zwar ein sehr zeitgeistiges Abbild vom Westberlin des Jahres 1986 geschaffen hat. Aber das beschauliche Westberlin der 80er-Jahre vermag etwas zu vermitteln, das über sich selbst hinausweist: „Linie 1“ ist – Berliner Schnauze und Lokalkolorit hin oder her – eine Geschichte, die typische Großstadtcharaktere in ihrer fast unmöglichen und dennoch fast immer glückenden Koexistenz auf die Bühne bringt. Der unverhoffte Erfolg des Musicals führte dazu, dass es am Grips Theater gut dreieinhalb Jahrzehnte (und mehr als 2000 Mal!) in der Fassung seiner Uraufführung gezeigt und von New York bis Kalkutta nachgespielt wurde. So konnte es auf seine Welthaltigkeit überprüft werden. Dass das 80er-Jahre-Setting derzeit einen Retro-Hype bedient, kommt dem Regieteam um Egloff sicher zupass.
Lehrstunde in Zeitgeschichte
Die Geschichte um die naive Natalie (sehr einnehmend: Helena Charlotte Sigal) ist schnell erzählt und trägt doch das Bühnengeschehen, bei einer Pause, über drei Stunden. Wir folgen der Protagonistin auf ihrem Weg durch Westberlin, das sie gerade aus der Bundesrepublik erreicht hat. Sie hat sich in den Berliner Musiker Jonny verliebt, von dem sie ein Kind erwartet. Auf ihrer Suche nach ihm entlang der U-Bahn-Linie 1 zeigt sich ihr das Sozialgefüge der Großstadt: Hedonisten und Spießer, Punks und Junkies, Obdachlose und Gewinnertypen (liebevoll kostümiert von Mascha Schubert). Für einen Höhepunkt sorgen die „Wilmersdorfer Witwen“, außen glanzvoll, innen braun. Ludwig muss sich nicht vorwerfen lassen, brisante Themen – Suizide, Abhängigkeit, Rassismus sind einige davon – ausgespart zu haben. Aber es ist nicht zuletzt dem Genre Musical geschuldet, dass die sozialen Problemlagen, die auch in der Inszenierung zum Tragen kommen, häufig eine Verkitschung erfahren.
Die Möglichkeiten zu Aktualisierungen hat Egloff kaum wahrgenommen. So gerät „Linie 1“ auch zu einer – sehr heiteren! – Lehrstunde in Zeitgeschichte, was der Arbeit keinen Abbruch tut. Dass der Großteil eines 16-jährigen Publikums aber weiß, wer Humphrey Bogart ist, oder etwas mit der Formulierung „die Flocke machen“ anfangen kann, muss man bezweifeln. Kleinere Eingriffe am Text hätten hier große Wirkung entfalten können. Nach dem großen Finale geht man allen Vorbehalten zum Trotz fast beschwingt aus diesem temporeichen U-Bahn-Ritt. Nur ein paar Meter vor den Türen des Grips wartet bereits der öffentliche Nahverkehr – allerdings die wenig abenteuerliche Linie 9, in der man kaum gestört wird, während man die eine oder andere Szene nachwirken lässt.