Dicht und bedrückend
Es geht in der Inszenierung von von Marcus Lobbes am Deutschen Theater Göttingen auch nicht darum, Neues zu erzählen. Gleichzeitig geht es aber auch nicht darum, altbekannte Geschichte noch einmal aufzurollen, die großen Zusammenhänge zu erzählen. Die werden als bekannt vorausgesetzt. Für ihr Stück ist die Autorin Gesine Schmidt – deren doku-fiktionale Arbeiten mehrfach ausgezeichnet wurden – in Göttinger Archive gestiegen und hat sich mit Einzelschicksalen beschäftigt, Akten gewälzt, mit Menschen gesprochen – so lange, bis sie die Schicksale dreier jüdischer Familien der Stadt rekonstruieren konnte. Die Geschichte wird erzählt von fünf Schauspielern, Figuren, die als leicht verklemmte Archivare mit Brillen und in Khaki-Kleidung zwischen den Lautsprechern auf der Bühne hin- und her staksen, immer irgendeine Akte, irgendein Stück Papier in der Hand. In Schmidts Stück wird kaum kommentiert. Es werden Quellen verlesen. Alte Akten, Polizeiberichte, Gerichtsunterlagen, Kaufverträge, Inventarlisten, Amtsbriefe, hauptsächlich aus der Zeit zwischen 1933 und 1941, dazwischen sind Zeitzeugenberichte eingestreut. Diese historischen Quellen zeichnen, im Laufe des zweistündigen Abends, ein dichtes und bedrückendes Bild der schleichenden Enteignung von Juden im Dritten Reich. Jedes Jahr, jeden Monat ein neues Gesetz, ein neues Berufsverbot, so lange, bis den Opfern jede materielle Lebensgrundlage entzogen ist und sie zur Flucht gezwungen sind. Die Gewinner? Linientreue Deutsche, selbstverständlich, und der Plan zur „Arisierung“ Deutschlands.
Das Große im Kleinen
„Die Nutznießer – ‚Arisierung‘ in Göttingen“ entfesselt gleichzeitig eine große Wucht und eine große Langeweile. Wucht, weil die Akten minutiös Prozesse im Kleinen – in der Region Göttingen / Hannover / Braunschweig / Hildesheim – rekonstruieren, die so überall im Dritten Reich passierten, diese aber im Einzelschicksalen verknüpfen, sich einige Menschen symptomatisch herausgreifen, und von ihnen – oder eben ihren Inkarnationen in intensivem Aktenverkehr – erzählen. Langeweile, weil die Inszenierung im Grunde genommen eine zweistündige Lesung dieser Akten ist – da ist keine sprachliche Eleganz, da gibt es keine Zugeständnisse, keine Erklärungen, keine Zusammenfassungen. Nur das Amtsdeutsch des Dritten Reiches, nur die harte, brutale, substantivlastige Realität der zuständigen Ämter. Die dazwischen eingestreuten Augenzeugenberichte wirken dagegen fast wie erleichternde, üppige Inseln des Storytelling.
„Die Nutznießer ‚Arisierung‘ in Göttingen“ ist vor allem durch diese sprachliche Kompromisslosigkeit ein dickes Brett von Inszenierung, nichts für einen leichten oder fröhlichen Abend. Aber wer sich darauf einlässt, findet eine dichte, wuchtig erzählte Geschichte, die mit beeindruckender Akribie recherchiert ist. Und vielleicht auch keine kleine Parallele, die gerade in heutiger Zeit bedenkenswert sein dürfte: Die Katastrophe kommt schleichend, und wenn man sie sieht, dann ist es schon zu spät.