Aug in Aug mit dem Tod

Eyal Dadon/Andonis Foniadakis: Der Tod und das Mädchen

Theater:Staatstheater Kassel, Premiere:01.02.2025 (UA)Musikalische Leitung:Viktor Jugović

Das Staatstheater Kassel verschränkt im Doppelabend „Der Tod und das Mädchen“ von Andonis Foniadakis und Eyal Dadon zwei tänzerisch sehr ungleiche, dabei absolut furiose Uraufführungen miteinander. Die funktionieren auch in der Raumbühne ANTIPOLIS.

Nichts ist, wie es scheint beim neuen Tanzabend im Kasseler Opernhaus. Eben deshalb haben beide Neukreationen für die ausdrucksstarke Truppe des Dreispartentheaters einen schonungslos-unfassbaren Reiz. Sie wirken gespenstisch und öffnen Fenster in eine jenseitige Welt: trist, voller Gewalt und trübe für die einen, klar und erlösend für die anderen. Durch eine dieser imaginären Öffnungen erblickt man womöglich sich selbst, sieht Erinnerungen oder unterdrückte Begierden vorbeiziehen. Hinter dem anderen hängt die Menschheit im sich ständig erneuernden Kreislauf des Lebens fest. Da kann einem durchaus angst und bange werden.

Andonis Foniadakis: „Der Tod und das Mädchen“

Unter dem Gesamttitel „Der Tod und das Mädchen“ sind zwei in ihrer choreografischen Machart unterschiedliche, auf Intimität getrimmte, tänzerisch sehr ungleich furiose Uraufführungen miteinander verschränkt. Beide erwischen den Zuschauer eiskalt. Den Anfang macht Andonis Foniadakis’ explosive, fast schon mythologisch aufgeladene Tanzadaption von Schuberts Streichquartett Nr. 14 d-moll. Von Romantik, behutsamer Verführung oder biedermeierlich unschuldigen Gefühlen ist in dieser Interpretation keine Spur. Die Köpfe und Haare der drei Tänzerinnen hängen schon vornüber, während sie barfuß auf Zehenspitzen noch wie schlafende Erinnyen das Bühnenrund queren. Lange schwarze, ärmellose Kleider tragen zu Stückbeginn auch die drei Tänzer. Grüppchenweise, dann gemeinsam treten die Gegenspieler auf – erst gebrochen, dann exaltiert wie Furien und dazwischen irgendwie verloren. Von der Decke hängt ein altmodischer, messingfarbener Armleuchter. Dennoch hat Foniadakis seine erstaunliche Produktion wohl eher im Hades verortet als in einem leerstehenden Saal.

Brutales Austoben und halsbrecherische Duette

Das Tänzersextett steigert sich in variablen Konstellationen physisch immer mehr in eine höllisch-grausige Emotionalität hinein. Selten nur blitzt Zärtlichkeit auf. Regelrecht enthemmt wird einem unbändigen Hunger aufs Leben gefrönt. Die Tänzer schlagen Saltos, knallen laut auf und hechten virtuos über eine rote, mittig auf der Drehbühne zwischen zwei ins Leere führenden Treppenteilen liegende Turnmatte. Es ergeben sich Paarbildungen, die sich in halsbrecherischen Duetten brutal austoben. Dabei baut sich zunehmend ein auch sexuell aufgeladenes Spannungsgefüge zwischen den Geschlechtern auf. Ein in seiner darstellerischen Intensität vehementer Kampf zwischen Leben und Tod scheint zu entbrennen. Aus dem Spiel um Vergänglichkeit wird bei Foniadakis, der das musikalische Werk beeindruckend gegen den Strich auf seine Ambivalenz hin analysiert hat, ein körperlich kraftvoll in Szene gesetzter Totentanz.

Treibender Motor bleibt Franz Schuberts melodiöse Komposition in der Orchesterfassung von Gustav Mahler. Männer wie Frauen oszillieren zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen. Mal sind sie dynamisch aktiv und präsent, mal entweicht ihren Leibern alle Energie. Entseelt brechen sie an Ort und Stelle zusammen. Die Männer tragen nun Hosen, die Frauen katapultieren ihre nackten Beine durch die Luft. Wer die Rolle des Opfers, wer die des Knochenmanns übernimmt, wechselt permanent. Bis sich der Fokus auf ein letztes quasi unbekleidetes Paar einengt. Die Matratze war Grabstein und Arena zugleich. Jetzt wird sie zum Altar. Urplötzlich fällt die Tänzerin über den rücklings unter ihr liegenden Mann her. So verwandelt sie sich in einen monströs lachenden Sukkubus. Foniadakis’ ungeheuerlicher Schluss ist der Hammer. Denkwürdig und radikal in seinem archaischen Wahn.

„Shuv“ von Eyal Dadon

Wesentlich sanfter, ruhiger und kontrollierter geht es nach der Pause in „Shuv“ – „Ewigkeit“ des israelischen Choreografen Eyal Dadon zu. Das Vokabular ist minimalistischer, Gruppierungen der nun vier Tänzerinnen und drei Tänzer sind seltener, zufälliger und loser. Hier wird achtsamer miteinander umgegangen und emotional zurückgenommener agiert. Getanzt wird teils recht beschwingt und stets im Einklang mit der Musik. Zu John Adams von Tremolos durchzogenen „Shaker Loops“ schütteln die Tänzerinnen und Tänzer immer wieder ihre Körper am Platz. Manchmal vibrieren sie von Kopf bis Fuß wie unter Strom. Ihre Arme floaten weich oder formen Kanten. Dazwischen trippeln die Protagonisten flink gegen die konstant dynamischen Fliehkräfte der Drehscheibe unter ihren Sohlen an oder halten an deren Rand inne, um ein Stück des Kreises mitzufahren. Später werden dem Klangteppich Stimmen von Beduinen untergemischt. Elektronische Elemente lösen die Live-Instrumente im Orchestergraben ebenso ab wie perkussive Rhythmen anstelle des anfänglichen tonalen Flirrens (Sounddesign: Gil Yaacov Nemet) treten.

Inhaltlich kreist in dem unter der Leitung von Viktor Jugović live vom Staatsorchester Kassel begleiteten Zweiteiler alles um das Mysterium des Todes. Das kann schon für sich allein ziemlich verstörend sein. Auf der – motorisch vor allem im zweiten Teil eine wichtige Rolle spielenden – Drehbühne kommt eine bisweilen brachiale körperliche Bewegtheit hinzu, die zwar konkrete Erzählstränge ausspart, den Betrachter aber entweder unmittelbar anspringt (Foniadakis) oder aufgrund von Wiederholungen das Unterbewusstsein triggert (Dadon). Dies funktioniert, weil die famosen Ensemblemitglieder von Tanz_Kassel in jeder Sekunde die Bereitschaft erkennen lassen, sich total zu verausgaben. Dadurch gelingt es, das Leben, Sterben und die Ewigkeit zyklischer Kreisläufe mitsamt der damit stets verbundenen menschlichen Zerrissenheit tänzerisch in Bilder zu fassen. Unschärfen und kurze stille Unterbrechungen, die den Gesamteindruck eher stärken als schwächen, haben sowohl Foniadakis als auch Eyal Dadon bewusst untergemischt.

Ein Baugerüst als Totaltheaterort – auch im Tanz?

Auf diesen Abend kann Tanzdirektor Thorsten Teubl, der die kleine zeitgenössisch ausgerichtete Kompanie seit 2021 sichtlich erfolgreich leitet, mit Recht stolz sein. Die jetzige Spielzeit soll die vorerst letzte Bau am Kasseler Friedrichsplatz sein. Im Sommer beginnen die umfassenden Sanierungsarbeiten an der Bühnenmaschinerie. Deren Verfall versteckt man derweil hinter bedruckten Planen. Der gesamte Bühnenraum mutiert mittels eines simplen Baugerüsts zu einem Totaltheaterort, der etwas hochtrabend „Antipolis“ genannt wird. Die Nutzung dieser zusätzlichen Bestuhlung bleibt zwar optional, aber einen solchen ungewohnten Perspektivwechsel auf die Choreografien von oben und aus größerer Nähe sollte man sich nicht entgehen lassen. Wie sehr jedoch engt der nüchterne Look dieses Gestänges die Kreativität der (Tanz-)Ausstatter bis zum Umzug in die Ersatzspielstätte ein?

Thorsten Teubl und das Produktionsteam des Doppelabends „Der Tod und das Mädchen“ hatten Glück. Das ungewöhnliche Rahmen-Ambiente harmoniert hier erstaunlich gut mit Anastasios-Tassos Sofronious Kostümkosmos sowie den überschaubaren Ausstattungselementen und Lichtideen des Bühnenbildners Sakis Birbilis. Künftige Einstudierungen können dagegen leicht darauf verzichten. Denn der Tod lauert im Nirgendwo. Als omnipräsenter Begleiter allen Lebens trifft er irgendwann jeden und bleibt doch un(be)greifbar. Meist wird er in männlicher Form dargestellt, in den romanischen und einigen slawischen Sprachen ist er weiblich. In Eyal Dadons „Shuv“ hat der Tod weder Gestalt noch Geschlecht. Soll wohl heißen, dass Vergänglichkeit eine ureigene Transzendenz innewohnt. Alle fulminanten Akteure gehen damit jedenfalls wunderbar assoziationsreich und offen um.