Foto: Jan Henning Kraus Elif Esmen und Katharina Maschenka Horn in "Kassandra" in Kaiserslautern © Marco Piecuch
Text:Annette Poppenhäger, am 4. Februar 2014
In Kaiserslautern spricht Kassandra (auch) türkisch und das nicht nur, weil Schauspielerin Elif Esmen die weichklingende, melodische Sprache beherrscht. Es ist Programm: Handzettel informieren zweisprachig vor Vorstellungsbeginn, dass mit König Priamos, „dessen Name wahrscheinlich im Orient beheimatet ist“, ein „ägäisch-kleinasiatisches Herrscherhaus über eine gemischte Bevölkerung“ herrschte. Mit diesem plausiblen Kniff holt Regisseurin Nada Kokotovic den antiken Mythos ran an deutsche Gegenwart, holt die Geschichte um die Seherin, deren Prophezeiungen kein Glauben geschenkt wird, runter vom bildungsbürgerlich-klassischen Podest. Manche Situation, mancher Dialog um Ehre und Familie, Zwangsheirat und Wiederherstellung des Rechts ist sowohl aus Debatten über unsere Zuwanderungsgesellschaft als auch aus Schlagzeilen um sogenannte ‚Ehrenmorde‘ bekannt.
Damit ist der Abend ziemlich weit weg von Christa Wolf, die mit ihrem in Ost- wie West-Deutschland in den 80er Jahren Furore machenden Text auch eine Zustandsbeschreibung auf die zunehmend bleiernen DDR-Verhältnisse lieferte. Friedrich Schorlemmer, Bürgerrechtler und Pfarrer der friedlichen Revolution von 1989 saß zur Premiere übrigens in der ersten Reihe. Wie mag er das wohl empfunden haben?
Schon Wolf stellt die Rolle der Frau in den Vordergrund, Regisseurin Kokotovic bedient sich bei der berühmten Erzählung als Spielmaterial. Das Besondere dabei: den drei Spielern vom Pfalztheater werden zwei Tänzer zur Seite gestellt. Denn Kokotovic und ihr koproduzierendes TKO Theater Köln arbeiten mit choreographischen Elementen. Kassandra und Aieneias werden gedoppelt, also gespielt und getanzt, alle weiteren benötigten Figuren wie Hekabe, Penthesilea, Klytaimnestra und die hinzugefügte Kommentatorin spielt sehr klar und präzise Susanne Ruppik, die so Orientierung im Faktendickicht liefert. In alle Männerrollen, Griechen wie Troer, schlüpft Jan Henning Kraus. Die Frau als Beute, als Unterpfand einer männlichen Politik wird drastisch vor Augen geführt: zu harten Musikbeats wird Kassandra missbraucht und immer wieder vergewaltigt. Das ist vehement und von eindringlicher Direktheit, über die Dauer des Abends erschöpft es sich und bleibt letztlich auch sehr fasslich. Der von Wolf angeschlagene nuancenreiche hohe Ton der Vorlage geht dabei verloren.
Stück und Text sind voll von brutalen Szenen, zum gruseligen Danse Macabre wird Achills Vergewaltigung der von ihm getöteten Penthesilea (Susanne Ruppik in Military-Hose und Stiefeln). Kassandra nennt den Griechenheld nur noch „Achill das Vieh“. Einzig Aineias sieht die Frau nicht als Objekt, über das nach Belieben verfügt werden kann. Glück und Leidenschaft werden hier von Katharina Horn und Benjamin Block getanzt.
Kassandras Geschichte nimmt bekanntlich kein gutes Ende, in Kaiserslautern ist sie der Auftakt zum spartenübergreifenden Antikenprojekt dieser Spielzeit: Es folgen noch die „Orestie“ des Aischylos und Glucks Oper „Iphigenie in Aulis“. Passend zum Spielzeitmotto „…und, was glauben Sie?“.