Foto: Szene mit Daniel Scholz, Nicola Lembach, Pius Maria Cüppers, Henriette Schmidt, Karen Dahmen und Stefan Lorch © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 23. Juni 2014
Ein Hund wurde ermordet, wer war der Täter? Gemach, zunächst wird erst mal die Welt erschaffen: Der 15jährige Ermittler mit dem Hang zu Primzahlen, ein Autist im Spannungsfeld von Außenansicht und Selbstwertgefühl, stemmt ächzend den ganzen Sternenhimmel (Bühne: Nehle Balkhausen) hoch, um unter solch eigenem Lebensraum seine spezielle Geschichte zu erzählen: „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“. Ein britischer Bestseller von Mark Haddon aus dem Jahr 2003 in der neun Jahre später entstandenen Bühnenadaption seines Landsmanns Simon Stephens, nach der übereinstimmend als „herzerwärmend“ gerühmten Dresdner Deutschland-Premiere nun explosionsfreudig inszeniert von Christoph Mehler.
Dies ist ein zuverlässig Irritation stiftender Regisseur, der pünktlich einmal pro Spielzeit auf Zubringer-Basis das Nürnberger Schauspiel-Ensemble an der Avantgarde reibt und im langen Titel naturgemäß aufs „Sonderbare“ anspringt. Es hat Logik, dass seine Dramaturgin im Programmheft das Stück „herzzerreißend“ nennt – man bemerkt an diesem Abend, sofern man den Griff zum Herzen nicht lassen kann, tatsächlich mehr Risse als Wärme.
Die rotierende Drehbühne mit dem toten Wolfs-Hund im Zentrum ist das Hoheitsgebiet von Christopher. Wer sich dem verschlossenen Jungen mit dem Asperge-Syndrom des Unberührbaren und seiner schrecklich nüchternen Vernunft („Sei still! – Wie lange?“) nähert, macht auf alle Fälle eine schlechte Figur. Der überfürsorgliche Vater, die schrillen Nachbarn, die groteske Lehrerin, später auch die entflohene Mutter mit ihrem notgeilen Liebhaber – allesamt Panoptikums-Phantome aus dem geheimen Musterbuch von Wilhelm Busch. Den alleinerziehenden Papa trifft es am härtesten als der Sohn, um dessen Aufmerksamkeit er mit Sirenen-Stimme und vollem Körpereinsatz kämpft (am schönsten in einer pädagogischen Rauferei, die zum innerfamiliären Pas de deux ausartet), auf der Flucht vor ihm erstmals eigenständig das Haus verlässt. Da bleibt die Scheibe nach einer Stunde erstmals stehen, die fremde Welt funktioniert nicht im kleinen Kreislauf. Immerhin, dort wird das Happy-End eingefädelt, die letztlich erfolgreiche Reifeprüfung des Sonderbaren, der eben auch ein Mathe-Genie ist.
Die Übernahme der Titelrolle durch eine Frau, die in Nürnberg auch als „Fair Lady“ beachtliche Henriette Schmidt, bleibt die allerkleinste Irritation – hatte Mehler hier doch sogar schon Shakespeares „Richard III.“ geschlechtsübergreifend besetzt. Entscheidender ist der Blickwinkel auf die mutwillig zersplitterte Story, denn ganz genau weiß man bis zum sarkastischen Ende mit den nachgemeldeten Karriere-Sprüngen im Kino-Abspann ganz nach Hollywood-Modell nicht, ob es der Junge oder doch bloß der Regisseur ist, der den harmoniesüchtigen Zuschauer hier mit Spott manipuliert. Klar wird aber, dass die Inszenierung nichts so sehr verabscheut wie den Trend zur gefühligen Außenseiter-Komödie, also den versöhnlerischen Erfolgs-Sog zwischen „Tschick“ und „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“. So gesehen, wäre sie geglückt – bliebe da nicht der Zweifel, wie der zwischen Erzählung und Dramatik immer bodenständig schwingende Text in dieses Experiment passt.
Bei Büchners verblüffend ähnlich inszeniertem „Woyzeck“, wo Mehler den Titelhelden eine Stunde lang im Kreis laufen ließ und die ganze Gesellschaft von außen sein Elend grimassierend begleitete, bot die Vorlage jedenfalls mehr Widerstand.
Wie dem auch sei, Henriette Schmidt spielt den nach seinen eigenen Regeln makellosen Christopher mit faszinierender Feinfühligkeit. Sie beutet das längst für TV-Serien genutzte Krankheitsbild nie aus, skizziert das Anderssein mit kühler Andeutungs-Präzision und bewahrt auch bei gekrümmtem Körper und stolpernder Sprache immer das fließende Komödianten-Spiel. Den Partnern bleibt nur Satelliten-Dynamik, sie umkreisen das Zentrum mit weit ausfahrbarer Hysterie. Stefan Lorch als penetranter Zappel-Papa und Pius Maria Cüppers in einer weiteren Studie seiner Sammlung von Charleys Tanten sind die führenden Repräsentanten dieser quietschbunt flankierenden Alltags-Anarchie. Der Rest ist Regie-Unfallflucht. Nur „Herr Graf“ kann am Ende nach Belieben lässig die Zunge aus dem Maul hängen lassen, er ist nach dem abgeräumten Erst-Hund der alternative Bestechungs-Mops fürs Problemkind, und mit ihm – das kann jeder Autist bei Loriot nachlesen – wird das Leben nicht mehr nur denkbar, sondern sogar sinnvoll. Das Theater ist manchmal komplizierter als das Leben.