Foto: "Die lustige Witwe" in Nürnberg © Jutta Missbach
Text:Dieter Stoll, am 6. November 2017
Thomas Enzinger inszeniert „Die lustige Witwe“ am Staatstheater Nürnberg
Zwei zentrale Fragen werden bei dieser weißnichtwievielten Nürnberger Neuinszenierung von Franz Lehárs „Die lustige Witwe“ bei geschlossenem Vorhang und noch vor der Ouvertüre aufgeworfen. Erstens: Wie viele Nullen braucht so ein zahlungsunfähiger Staat, damit er in geordneten Bahnen weiterwursteln kann. Zweitens: War Karl Marx womöglich auf Recherche für „Das Kapital“, als er in Paris nebenberuflich Saxophon gespielt hat? Antworten? Die läppischen 20 Millionen aus dem Erbe der Hanna Glawari reichen dem Operettenland Pontevedro zur Insolvenzverschleppung, aber der rauschebärtig als wandelndes Melodienmotiv-Gebläse durch Botschaft und Ballsaal tourende Salon-Musikant mit der unverwechselbar haarigen Physiognomie behält das Geheimnis seiner besonderen Beziehung zu den gebündelten Ohrwürmern für sich. Proletarier aller Länder, vergnügt euch! Und dabei hatten wir bislang doch immer nur von „Hitlers Lieblings-Operette“ gehört. Egal, es dauert kaum mehr als fünf Minuten, bis Regisseur Thomas Enzinger das Wort „Lügenpresse“ in die Dialoge eingefädelt und den Baron-Botschafter mit dem Schlachtruf „Pontevedro first“ munitioniert hat. Danach sind alle ziemlich erschöpft von so viel aktueller Gesellschaftskritik in einer einzigen Szene und erholen sich dankbar auf dem Polster traditioneller Gaga-Gags.
Der Nachtclub Maxim, den der nette Playboy Danilo zum Fitness-Center seiner erotischen Verklemmungen macht, bleibt in der Ausstattung von Bühnenbildner Toto nur verwunschener Sehnsuchtsort. Die Story beginnt in der Botschaft, was an dem großen Firmenschild „Botschaft“ gut zu erkennen ist. Dort bröckelt der Putz, ein Kronleuchter ist bereits runtergekracht und der große Müllcontainer schluckt unbeeindruckt vom Aufmarsch der singenden Party-Gesellschaft neben Leitz-Ordnern auch Salon-Polsterstühle. Hat aber nichts weiter zu bedeuten, die begehrte „Witwe“ mit dem verführerischen Girokonto hat sowieso in keinster Weise Scheu vor Ruinen. Ihren Ex-Liebhaber beispielsweise, diesen grisettenabhängigen Champagner-Danilowitsch mit Schlafdefizit, fasst sie sofort wieder ins Auge. Er wehrt sich ein wenig gegen die zunächst finanzpolitisch motivierte Wiederverkupplung, denn sonst wüsste ja keiner, wie man die Musiknummern unterbringen soll. Erst als Frau Glawari für ihren inoffiziellen Polterabend das Maxim nachbauen lässt (hier stiftet der Bühnenbildner mehrere radschlagende Pfauen), überkommen den bockigen Bräutigam heimelige Gefühle. Derweil werfen Chor-Herren gegen alle Sockenhalter-Wahrscheinlichkeiten unerschrocken ihre Beine himmelwärts, um so die zentrale Philosophie zu verbreiten: „Ja, das Studium der Weiber ist schwer!“ Natürlich darf an dieser Stelle gerne darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Hanna Glawari um eine frühe Form der emanzipierten Frau handelt. Dramaturgen-Latein, auch in dieser Produktion der „Lustigen Witwe“ etwas fürs Programmheft. Auf der Bühne ist davon nichts zu erkennen. Aber Karl Marx (Lukas Diller) tutet immer noch ins Saxophon.
Man mag Zweifel haben, ob dieser Operetten-Welterfolg aus einem sehr fernen Jahrhundert überhaupt noch fürs Theater der Gegenwart diskutabel ist. Doch da spricht die nach wie vor überwältigende Präsenz einiger Melodien (freilich umgeben von mindestens ebenso vielen Couplet-Banalitäten) ebenso dagegen wie die Tatsache, dass die richtige Besetzung der Hauptrollen nebst energischer Blockade der am meisten abgenutzten Kalauer aus dem Klamauk im Arienrausch immer noch Komödien-Funken schlagen könnte. In Nürnberg, wo die letzte „Witwe“ erst vor zehn Jahren gespielt wurde, gelingt das leider nicht.
Regisseur Thomas Enzinger, ein Sparten-Routinier mit erkennbar mehr Vertrauen zum Handwerk als zur Inspiration, arrangiert seine kleinen Einfälle wie Schaumkrönchen auf flachem Wellenschlag. Für den unterbelichteten Adjutanten Njegus, den Generationen von Komikern zur Vorzugs-Witzfigur machten, hat er vom Schauspiel nebenan Pius Maria Cüppers ausgeborgt, eigentlich eine Jux-Fachkraft, und ihn zum rempelnden Kontakt ins Parkett geschickt wie neulich den Frosch in der „Fledermaus“. Naja, wenn´s sich doch bewährt hat. Bei den vier Protagonisten hakt es heftiger. In der Titelrolle Isabel Blechschmidt, die vor zwei Wochen an gleicher Stelle noch die Eliza in „My Fair Lady“ war und nun mit viel Kraftanstrengung aus dem Soubretten-Stand Klimmzüge in die Diva-Pose bietet. Ihr Partner Ludwig Mittelhammer, ein geradezu jugendlicher Danilo ohne den morbiden Dandy-Charme der diversen Vorbilder, singt angenehm und sollte in zehn Jahren nochmal bei der Rolle vorbeischauen. Das „kleine Paar“, Ina Yoshikawa als espritfreie Valencienne und Mozart-Stimme Martin Platz als Rosillion mit dem späten Durchbruch bei der ungestörten Arie von der „Rosenknospe“, bleibt in der zweiten Reihe. Wenn die Grisetten hüpfen, von gleich zwei Choreographinnen angeleitet, ist der letzte Rest der einst so unverschämt wirkenden Frivolität schlichtweg platt.
Auch Dirigent Guido Johannes Rumstadt, in der großen Oper durchweg beachtlich, findet nicht den richtigen Zugang zu Franz Lehárs schwelgerischen Schaumschlägereien. Er bevorzugt mit der Staatsphilharmonie die robuste Vitalität als ständigen Temperamentsnachweis, was einige plakativ schillernde Zwischenspiel-Leuchtspuren ergibt, aber im Umgang mit den oft überanstrengten Sängern selten die richtige Balance schafft. Die ehemalige „deutsche Operetten-Hochburg“ Nürnberg hat offenbar keinen Operetten-Dirigenten mehr. Wie es der Zufall so will, wurde wenige Tage vor dieser Premiere die Berufung der Erfurter Orchester-Chefin Joana Mallwitz als Nürnberger Generalmusikdirektorin ab Herbst 2018 bekannt – und sie macht vorher noch, erst daheim in Thüringen und dann mit Marlis Petersen in Frankfurt/Main, in dieser Saison gleich zwei Neuproduktionen der „Lustigen Witwe“. Wer weiß, ob das für die Zeit danach in Nürnberg etwas bedeutet.