Foto: Sommertheater in Leipzig: "A Clockwork Orange" © Mim Schneider
Text:Lea Matika, am 30. Juli 2020
Die Bühne ist staubig, an den Wänden prangen Graffiti, zwei A-förmige Luftballons wehen im lauen Sommerabendwind. Zuseiten der Open Air-Bühne auf dem Außengelände des Leipziger TV-Clubs stehen zwei überdimensionale Eistüten. Dann setzt der Song „Alle gegen alle“ von D.A.F. ein; fünf rotgewandete Droogs stürmen auf die Bühne und gebärden sich in einer Mischung aus Boybandmitgliedern und satanischen Strippenziehern.
Der düstere Elektropop setzt den Ton für den Abend und ist auditive Allegorie für die treibende, verführerische und faschistoide Beschaffenheit der Gewalt, die an diesem Abend mit „A Clockwork Orange“ theatral verhandelt wird.
Der Roman von Anthony Burgess wird immer wieder neu diskutiert. Gerade der stilprägenden Filmadaption Stanley Kubricks von 1971 wird öfter vorgeworfen, sie würde Gewalt ästhetisieren. Das Künstlerinnenduo schaefer||scherpinski zeigt in ihrer Inszenierung für das Sommertheater der Cammerspiele Leipzig erneut, dass diese Interpretation zu kurz greift, und geht mit dem kontroversen Stoff äußerst feinsinnig und einfallsreich um. Deutlich wird besonders die allumfassende, strukturelle Gewalt der Gesellschaft mit ihren Fallstricken und Paradoxien: die Doppelmoral der folternden Aufseher in der Besserungsanstalt, das moralische Dilemma des Systemgegners, der einerseits von Menschenliebe und Freiheitsgedanken angetrieben ist, andererseits aber am tiefen Schmerz über den Verlust seiner Frau leidet, die Alex ihm durch Gewalt nahm – und der den jungen Kriminellen aus Rache schlussendlich als Spielball politischer Kämpfe ausnutzt.
Auch Schäfer und Scherpinski ästhetisieren die Gewalt der Vorlage beziehungsweise finden durch aggressiven Tanz und uniformes Sprechen eine neue Sprache für sie. Wohlüberlegt werden neue Symbole für die ins kulturelle Gedächtnis übergegangenen Bilder der Filmadaption gefunden, die in ihrer Ikonizität für künstlerische Neuinterpretationen erdrückend sein können. So wird Alex in der Folterszene an einem Rhönrad befestigt und muss Beethoven singen, eine große Geste, die gerade im Freiluftsetting ihre Symbolwirkung entfaltet.
Die Applikationen an den Kostümen – wie verlängerte Ärmel oder ein dreigliedriger, zwischen Phallus und Oktopusarmen angelegter Gürtel – dienen als coronoataugliche Strategie, Figureninteraktion herzustellen, und tragen dazu bei, Gewalt körperlich distant darzustellen. Tom Schellmanns und Swantje Silbers Requisiten und Kostüme, auf die ein russisches Strickmuster als vereinheitlichend-faschistoides Symbol gedruckt ist, sind in ihrer Gesamtästhetik schlüssig und eine angenehme Abweichung von naheliegender Punk-Ästhetik. Das schreiende Rot der Kostüme und das grelle gesichtsverfremdende Make-Up fügen ein karnevaleskes und gleichzeitig klassisches Element hinzu.
Die Schauspieler interagieren oft von verschiedenen Ebenen aus und sprechen nicht miteinander, sondern ins Publikum. Trotzdem verliert man nicht den Bezug zum Stoff, was in der überzeugenden darstellerischen Leistung und dem exakten Timing der Spieler begründet ist. Die Entscheidung, den Protagonisten durch fünf Schauspieler darzustellen, erweist sich als gelungene Strategie, den Facetten und Gefühlslagen von Alex gemäß der Komplexität der Vorlage gerecht zu werden. Denn hätte Alex nicht seine Vorzüge, wie Sprachwitz und Sinn für Musik, so würde eine Verurteilung viel leichter fallen.
Lediglich der Versuch, durch Zitate von JVA-Insassen im Programmheft einen aktuellen Bezug herzustellen, wirkt deplatziert und inkonsequent, da im Inszenierungsverlauf kein weiterer Bezug darauf genommen wird. Hier wurde die Möglichkeit verpasst, Zeitbezug herzustellen. Interessant wäre etwa die Frage gewesen, ob Alex‘ Geschichte zum Erfolgsnarrativ in einer neoliberalen Gesellschaft taugt, in der der Griff zu individueller Gewalt immer öfter als die einzig mögliche Ermächtigung gegen Herrschaft erscheint.