Ins Zentrum getanzt

Thomas Köck: proteus 2481

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:13.12.2024 (UA)Autor(in) der Vorlage:AischylosRegie:Thomas Köck

Thomas Köck spielt in „proteus 2481“ mit der Rekonstruktion eines nicht überlieferten Satyrspiels von Aischylos. Diese Infragestellung der europäischen Literaturüberlieferung wird in den Münchner Kammerspielen in der Uraufführungsinszenierung des Autors zu einem Theaterfest gesellschaftlich leicht übersehener Menschen.

Im Theater der großen griechischen Dramatiker Aischylos, Sophokles und Euripides folgte auf eine Tragödientrilogie immer ein Satyrspiel. Doch von dieser heiteren Theaterform – die mit den Komödien wiederum nicht viel zu tun hatte – ist uns kaum ein Stück überliefert. Das Satyrspiel zur „Orestie“ des Aischylos hieß „Proteus“, davon sind zwei kryptische Verse erhalten. Thomas Köck kam nun auf die geistreiche Idee, das Stück wiederzubeleben. Was leicht bei einem Intellektuellengag hätte bleiben können, wird in der Regie des Autors zu einem fulminanten Plädoyer für ein alternatives Theater.

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Neue Helden

Begleitet von Klavier und Schlagzeug (Musik: Andreas Spechtl) tritt der siebenköpfige Chor in übertrieben glitzernden Gewändern auf (Kostüme: Martin Miotk) und gibt in einem Song gleich Bescheid: „wir sind die satyrn (…) wir sind die grenzen des geschmacks“. Der Chor kognitiv und sehbeeinträchtigter Schauspieler:innen und Musiker:innen (der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte), strahlt von Beginn an eine große Spiel-, ja Daseinsfreude aus. Begleitet von Johanna Eiworth als Chorführerin und Bernardo Arias Porras ist dieser Chor das neue Zentrum des Spiels. Den klassischen Heldenfiguren Helena und Menelaos, gespielt von den mexikanischen Gästen Micaela Gramajo und Bernardo Gamboa, bleiben nur noch Nebenrollen.

Überhaupt ist Köcks Satyrspiel eine wilde und gewagte Mischung. Es dient nicht nur der Rehabilitierung eines abseitig gewordenen Theatergenres, sondern auch der Wiedereinsetzung ausdrücklich untragischer Gestalten ins Theater. Köck verbindet das Fragment – in dessen Zentrum vermutlich der für das Wechseln seiner Gestalt bekannte Meeresgott Proteus steht, auf dessen Insel vor Ägypten Helena und Menelaos auf der Rückreise von Troja gestrandet sein sollen – mit der humorlosen und körperfernen abendländischen Literaturtradition und schließt die vermeintliche Überlieferungsgeschichte des Textes auch noch mit Kolonialismus in Nord- und Südamerika und schließlich auch mit neurechten Abgrenzungsfantasien und damit der Krise unserer Demokratie kurz. Schließlich landen wir in der dystopischen Welt des Jahres 2481. Auch die Krise der Kammerspiele kommt nicht zu kurz, sie trifft sich in einem herrlichen Ausbruch Johanna Eiworths über das ganz „normale“ Theater mit dem hier praktizierten Theater der Öffnung für traditionell unterschätzte Talente sowie mit dem brechtisch-satyrischen Lied vom Geschmack.

Festspiel der Verwandlungen

All das klingt reichlich komplex und wahnsinnig ambitioniert – und zielt auch am sexuellen Aspekt der phallozentrischen griechischen Fabelwesen vorbei. Doch in seiner eigenen Uraufführungsinszenierung gelingt es Köck und dem Ensemble, diese Gedankenflüge in körper- und bewegungsreiches und musikalisches Theater zu übersetzen. Das Licht scheint – teils mittels verspiegelter Scheiben an der Decke – immer wieder (Licht: Stephan Mariani) ins Publikum hinein. Und die 75-minütige Aufführung bietet keine Konzeptkonstrukte mit ein wenig Bewegungszugaben oder gar gut-gemeintes Inklusionstheater, das nur über seine moralische Integrität funktionierte, sondern eine Show der Darstellung von und mit Gedanken.

Auf der weiten Bühne von Barbara Ehnes, die im Wesentlichen eine, wenn auch wenig bespielte, elliptische Rampe auf der Bühne im Kammerspiel-Neubau installiert hat, wechseln sich in der lustvollen Performance die Präsentation von vermeintlichen Fakten zu Werk und Überlieferung und der dialogisches Austausch über  die Deutung von Dichtung und Welt ab. Eine zentrale Rolle neben den oben Genannten spielt die Titelfigur Proteus.

Der querschnittgelähmten Samuel Koch bewegt sich rasant im Rollstuhl über die Bühne, erscheint dann zusammengeschnallt mit Bernardo Gamboa als Puppe des herzzerreißend einsamen Klassikers Racine und wird schließlich, in ein Gyroskop-ähnliches Rad eingespannt, als eitler Gott von Helena und Menelaos übertölpelt, indem er ihnen den Wind für die Heimfahrt her zaubert. Immer aber ist er ein präsenter, stimmlich variabler Darsteller. Das mit düsterer Gegenwart und dunkler Zukunft angereicherte Fragment ist ein Festspiel der Verwandlungen. Ein ganz neuer und doch irgendwie traditioneller Aischylos eben.