Foto: "Tosca" bei den Domstufen-Festspielen in Erfurt © Lutz Edelhoff
Text:Roland H. Dippel, am 15. August 2016
An diesem Sommerabend wird die Starsängerin Floria Tosca, aus einfachen Verhältnissen zur großen Diva von Rom aufgestiegen, zum Engel mit gleißendem Schwert. Kein Todessprung von der Engelsburg also zu den berühmten Fortissimo-Schlussakkorden, mit denen Pusccinis Oper so effektvoll schließt, sondern eine kämpferische, fast triumphale Geste. So zu erleben vor dem imposanten Dom zu Erfurt, auf dessen gewaltiger Stufenbühne das Theater der Landeshauptstadt – mit imponierenden Sponsoren-Rückhalt übrigens – seine 23. Festspiele ausrichtet.
Wie zufällig fällt in der großen Konfrontation im zweiten Akt Toscas Blick auf das kurze Obstmesser, dessen Todesschärfe sie selbst kurz spürt: Sie ritzt sich daran und leckt verstohlen Blut vom Finger. Polizeichef Scarpia presst sich von hinten an sie, dreht sie mit Gewalt zu sich. Fast automatisch trifft ihn der Stoß, ohne dass Tosca aktiv ausholt. Erst als Scarpia zu Boden sackt, zeigt sie ekstatische Erregung. Wenn sie im attacca folgenden Schlussakt mit großen Gesten – ganz Diva – ihrem Liebhaber Mario Cavaradossi von der Befreiungstat berichtet, übertreibt sie in der Darstellung ihres Mutes und Heroismus. Da wird die Klosterschülerin ganz Künstlerin. Und bereits vor Cavaradossis Engelsporträt – ohne büßende Maria Magdalena – zieht Tosca alle Register zwischen Koketterie und katholischer Schamhaftigkeit. Mit solchen Details überrascht Jakob Peters-Messer ausgerechnet vor den steilen und nach oben schmaler werdenden Treppen. Ihm gelingt ein Kammerspiel im monumentalen Ambiente. In nur einer Massenszene geben Mitglieder des Philharmonischen Chors und der Jugendchor der Musikschule dem Opernchor personelle Fülle: Zum „Te Deum“ schleichen blutbefleckte Bischöfe mit Schädelgesichtern lemurenhaft hinab. Das bleibt dann der einzige große Schaueffekt vor den folgenden, genau beobachteten Momentaufnahmen. Das exaltiert-wirkungsorientierte Ausstellen der Extremgefühle unterbleibt. Anfangs ist das – gerade bei einem Sommerspektakel wie hier – befremdend, dann aber nimmt dieser Ansatz zunehmend für diese maßvolle Darstellung ein.
Die Figuren agieren vor, auf und zwischen den Teilen einer riesigen zerbrochenen Engelsfigur, die Hank Irwin Kittel über die Domstufen legen ließ. An deren Lippen saugt sich Scarpia kurz fest, wenn er sich die Sättigung seiner Begierden ausmalt. Der gestürzte Engel ist Substitut für die Schauplätze des katholischen Roms und sinnfälliges Symbol zur Erfurter Gotik. Die Säulenfiguren des Doms leuchten in der Dämmerung bei Toscas Kantatensolo hinter der Bühne. Hier gibt es ohnehin nur Opfer: Sie verzweifeln als Menschen. Sie sind Versager in der Geschichte und vor dem bildmächtig assoziierten apokalyptischen Kampf des Erzengels Michael gegen den abtrünnigen Luzifer.
Kelly God porträtiert eine frauliche Tosca und stattet die Partie auch im feinsten Piano mit immer tragfähigen und kräftigen Tönen aus. Ihr kerngesunder Sopran trägt mit klar ausschwingendem Material problemlos über alle langen Fortissimo-Bögen der Folterszene. Robust an Statur und Tenor tritt ihr Andrea Shin entgegen. Er bleibt dem Part des Mario Cavaradossi nichts schuldig und erfüllt alle Erwartungen, ohne sich in den leidenschaftlichen und verzweifelten Emotionen des revolutionären Heißsporns allzu tief zu verlieren. Juri Batukov darf hier ganz ungebrochen den satanischen Vollstecker und stets verneinenden Geist geben. Er tut das mit spannend fahlen Bariton-Rohstoffen, klingt weniger diabolisch schwarz als grau, eiskalt und ernüchternd freudlos. Südliches Feuer hat diese Erfurter ohnehin „Tosca“ also kaum, dafür – konform zum Genius loci – aber überkonfessionelle Gründlichkeit.
Die wahre Freude: Das Philharmonische Orchester Erfurt musiziert sehr sorgfältig und differenziert. Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz ist bei Puccini viel besser in Form als jüngst bei „Meistersingern“ und „Macbeth“. Matthias Middelkamp eröffnete ihr mit seiner Einrichtung der Beschallungsanlage alle Möglichkeiten zur Auffächerung des Orchestersatzes. In den weitflächig-gelassenen und in jeder Sekunde sinnfälligen Tempi gibt es Freiraum für Details und einen natürlichen Fluss der musikalischen Dialoge. Aufschwünge wie Toscas erste Begegnung mit Scarpia, dessen Szene mit dem Spitzel Spoletta (ausdrucksstark: Alexander Voigt) im zweiten Aufzug und das Vorspiel zur letzten Begegnung vor Cavaradossis Erschießung bleiben in der Erinnerung haften. Das überzeugt gerade ohne veristischen Überdruck.
Nach der Schusssalve von Scarpias schwarzer Geheimgarde auf Cavaradossi leuchtet der Trümmerengel blutrot. Tosca verharrt ganz oben mit gestrecktem Schwert. Der Kampf geht weiter, in der Kapitale des Katholizismus und auch kurz vor dem Jubiläum „500 Jahre Reformation“. – Der Applaus ist zustimmend, nicht allzu enthusiastisch. Zu unspektakulär wohl stellt diese Produktion Puccinis Action-Oper über die politischen Kämpfe nach Ausrufung der römischen Republik 1798 in den Fokus christlicher Legendenchiffren. Das geschieht mit einer Dichte, wie sie gemeinhin eher in geschlossenen Theaterräumen erreicht wird.