Die Figuren agieren vor, auf und zwischen den Teilen einer riesigen zerbrochenen Engelsfigur, die Hank Irwin Kittel über die Domstufen legen ließ. An deren Lippen saugt sich Scarpia kurz fest, wenn er sich die Sättigung seiner Begierden ausmalt. Der gestürzte Engel ist Substitut für die Schauplätze des katholischen Roms und sinnfälliges Symbol zur Erfurter Gotik. Die Säulenfiguren des Doms leuchten in der Dämmerung bei Toscas Kantatensolo hinter der Bühne. Hier gibt es ohnehin nur Opfer: Sie verzweifeln als Menschen. Sie sind Versager in der Geschichte und vor dem bildmächtig assoziierten apokalyptischen Kampf des Erzengels Michael gegen den abtrünnigen Luzifer.
Kelly God porträtiert eine frauliche Tosca und stattet die Partie auch im feinsten Piano mit immer tragfähigen und kräftigen Tönen aus. Ihr kerngesunder Sopran trägt mit klar ausschwingendem Material problemlos über alle langen Fortissimo-Bögen der Folterszene. Robust an Statur und Tenor tritt ihr Andrea Shin entgegen. Er bleibt dem Part des Mario Cavaradossi nichts schuldig und erfüllt alle Erwartungen, ohne sich in den leidenschaftlichen und verzweifelten Emotionen des revolutionären Heißsporns allzu tief zu verlieren. Juri Batukov darf hier ganz ungebrochen den satanischen Vollstecker und stets verneinenden Geist geben. Er tut das mit spannend fahlen Bariton-Rohstoffen, klingt weniger diabolisch schwarz als grau, eiskalt und ernüchternd freudlos. Südliches Feuer hat diese Erfurter ohnehin „Tosca“ also kaum, dafür – konform zum Genius loci – aber überkonfessionelle Gründlichkeit.
Die wahre Freude: Das Philharmonische Orchester Erfurt musiziert sehr sorgfältig und differenziert. Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz ist bei Puccini viel besser in Form als jüngst bei „Meistersingern“ und „Macbeth“. Matthias Middelkamp eröffnete ihr mit seiner Einrichtung der Beschallungsanlage alle Möglichkeiten zur Auffächerung des Orchestersatzes. In den weitflächig-gelassenen und in jeder Sekunde sinnfälligen Tempi gibt es Freiraum für Details und einen natürlichen Fluss der musikalischen Dialoge. Aufschwünge wie Toscas erste Begegnung mit Scarpia, dessen Szene mit dem Spitzel Spoletta (ausdrucksstark: Alexander Voigt) im zweiten Aufzug und das Vorspiel zur letzten Begegnung vor Cavaradossis Erschießung bleiben in der Erinnerung haften. Das überzeugt gerade ohne veristischen Überdruck.
Nach der Schusssalve von Scarpias schwarzer Geheimgarde auf Cavaradossi leuchtet der Trümmerengel blutrot. Tosca verharrt ganz oben mit gestrecktem Schwert. Der Kampf geht weiter, in der Kapitale des Katholizismus und auch kurz vor dem Jubiläum „500 Jahre Reformation“. – Der Applaus ist zustimmend, nicht allzu enthusiastisch. Zu unspektakulär wohl stellt diese Produktion Puccinis Action-Oper über die politischen Kämpfe nach Ausrufung der römischen Republik 1798 in den Fokus christlicher Legendenchiffren. Das geschieht mit einer Dichte, wie sie gemeinhin eher in geschlossenen Theaterräumen erreicht wird.