Foto: Bo Sokvhus (Titus) und Barbara Hannigan (Bérénice) in Claus Guths Inszenierung der neuen Oper von Michael Jarell im Palais Garnier. © Monika Rittershaus
Text:Joachim Lange, am 4. Oktober 2018
Umjubelter Erfolg: Uraufführung von Miachel Jarrells Bérénice an der Pariser Oper.
Philippe Jordan, musikalischer Chef der Pariser Oper, hätte es sich auch leichter machen und zur Saisoneröffnung in der Bastille-Oper mit Giacomo Meyerbeers „Hugenotten“ absahnen können. Stattdessen hat er aber lieber das Abenteuer der Uraufführung von Michael Jarrells „Bérénice“ zur Chefsache gemacht und Meyerbeers Grand opéra Michele Mariotti überlassen. Einen Tag nach der „Hugenotten“-Premiere bewies Jordan im Palais Garnier, dass das Orchestre de l’Opéra national de Paris auch in diesem Genre fabelhaft musiziert – womit auch der Dirigent seine Exzellenz und seine Vielfalt bewiesen hat.
Dem Komponisten Michael Jarrell (60) ist mit seiner sehr gegenwärtig psychologisierenden Variante einer „Bérénice“- Vertonung ein Stück für großes Orchester, exponierte Stimmen, charismatische Darsteller und für das Publikum gelungen, wie man es heutzutage bei Novitäten fürs Musiktheater nicht häufig erlebt. Hinzu kommt mit Claus Guth ein Uraufführungs-Regisseur, der diesem Werk geradezu idealtypisch nahe kommt. Dass man mit Barbara Hannigan als Titelheldin und Bo Skovhus als Titus zwei Stars an der Spitze eines kleinen, aber feinen Ensembles engagiert hat, ist in Paris eine Selbstverständlichkeit.
Zu seiner neuen Komposition hat der Schweizer aus der Tragödie Jean Racines aus dem Jahre 1670 vier Sequenzen, wie er das nennt, seines Librettos destilliert. Herausgekommen ist eine verträgliche, anderthalb Stunden währende Episode um den römischen Kaiser Titus. Anders als in Mozarts populärer Variante geht es dabei nicht um dessen inneren Zwiespalt bei der Frage, mit wieviel Milde die Ausübung von Macht begleitet sein sollte. Hier geht es um die davor gelagerte Entscheidung, auf wieviel Liebe und persönliches Glück er verzichten kann um überhaupt an die Macht zu kommen und vom Senat und vom Volk akzeptiert zu werden. Dass die Römer die jüdische Bérénice – immerhin die Königin von Palästina – nicht offiziell an der Seite ihres Kaisers auf dem Thron sehen wollen, verleiht der Konstellation ein prinzipiell politisches Thema, das über die Jahrhunderte hinweg bis in unsere Gegenwart reicht. Titus entscheidet sich für die Macht und trennt sich von seiner Geliebten.
Dass sein Freund Antiochus (Ivan Ludlow) ebenfalls heimlich in Bérénice verliebt ist, aber bei ihr keine Chance hat, macht das Beziehungstableau so richtig operntauglich. Es ist imponierend, wie alle drei ihr Leiden körperlich nachvollziehbar machen. Die Trennung, die sowohl Bérénice wie auch Titus als schmerzliche Erfahrung erleben, kulminiert in einer explosiven Variante von „Szenen einer Ehe“, die nie eine werden kann. Beide gehen bis zur körperlichen Erschöpfung aufeinander los. Was bei zwei so charismatischen Sängerdarstellern wie Hannigan und Skovhus eine geradezu artistische Beweglichkeit einschließt.
Die packende und höchst theatertaugliche Musik schleicht sich zunächst an, schält sich aus einem Raunen, scheint dann aber mehr und mehr aus dem Inneren der Akteure zu kommen, vermag sich aufzubäumen und ist dabei so beredt wie die Partien der Protagonisten. Die hebräische Sprechrolle der Bérénice-Vertrauten Phénice fügt sich bruchlos ein. Für das intime Kammerspiel in den repräsentativen Räumen der Macht bildet die gelegentlich projizierte geisterhafte Anwesenheit des Volkes einen Rahmen, von dem sich die Akteure fern halten. Gleichwohl können sie dem Druck der Massen nicht wirklich ausweichen. So unwirklich weit weg die öffentliche Welt zu sein scheint – der Druck existiert und wirkt indirekt nach innen. Die weiteren Figuren Paulin (Alastair Miles), Arsace (Julien Behr) und Phénice (Rina Schenfeld) sind so etwas wie die personifizierte Verbindung der Protagonisten des Abschieds zur Außenwelt.
Claus Guth und Bühnenbildner Christian Schmidt verlegen dieses Kammerspiel des Abschiednehmens in drei großformatige, nebeneinander liegende klassizistische Räume ohne jeden Einrichtungs-Schnickschnack. Der zentrale ist etwas größer, links und rechts davon könnten die Privatgemächer von Bérénice und Titus sein. Von ausgesuchter Raffinesse sind die Videoüberblendungen, die Roland Horvath und Carmen Zimmermann (rocafilm) beisteuern. Sie setzten als schwarz-weiße Slowmotion-Einblendungen dem inneren Kampf der Protagonisten das Volk als unwirkliche Außenwelt gegenüber, machen aus den Innenwänden durch Überblendung wuchtige Mauern oder projizieren Bilder von einer Bérénice, die im Wasser schwebt. „Ertrinken, versinken, unbewusst…“ – ganz als wäre es Isoldes Liebestod. Nur fehlt hier die höchste Lust, die die Utopie einer anderen Welt bereithalten würde.
Für Jarrells neues, packendes Musiktheater sind die Pariser Protagonisten und diese Inszenierung ein Glücksfall! Es müsste mit dem Ignoranten-Teufel zugehen, wenn Bérénice nicht bald auch an anderen Bühnen ihrem Titus Adieu sagen müsste. Im ausverkauften Palais Garnier jedenfalls wurde auch die zweite Vorstellung dieser bemerkenswerten Opernnovität begeistert gefeiert.