Kandinskys Farboper "Violett" in Dessau: Kerstin Schweers, Julio Miranda, Fergus Adderley, Stefano Perini, Shinnosuke Nagata, Jörg Thieme, Riccardo Esposito.

Kaleidoskop des Lebens

Wassily Kandinsky, Ali N. Askin: Violett

Theater:Anhaltisches Theater Dessau, Premiere:13.09.2019 (UA)Autor(in) der Vorlage:Bühnenkomposition nach Wassily Kandinsky und Walter GropiusRegie:Arila SiegertMusikalische Leitung:Sebastian Kennerknecht

Im Parkett bricht Cancan-Seligkeit aus. Der riesige Saal des Anhaltischen Theaters bleibt an diesem Abend meist leer, aber jetzt hat der Opernchor die Reihen erobert, schwenkt goldene Schlüssel, Instrumente, Gießkannen. Später werden alle nicht um das goldene Kalb, sondern um einen schwarzen Stier tanzen, ihn mit Flitterkram schmücken. Das ist eine von vielen turbulenten Szenen in einer Uraufführung von Wassily Kandinsky: „Violett“. Es ist eine von vier Bühnenmusiken des Komponisten Ali N. Askin, die jetzt, zum Bauhaus-Jubiläum, Arila Siegert (Regie und Choreografie) auf die Dessauer Bühne bringt.

Und die ist an diesem Abend so ungewöhnlich wie das Stück. In vier Blöcken werden 240 Zuschauer auf der Bühne um ein rundes Podest platziert; Bühnenbildner Moritz Nitsche ließ sich von Walter Gropius‘ „Totaltheater“ inspirieren. Ein weißer Vorhang versperrt zunächst den Blick in den Zuschauerraum, auf ihm bildet sich eine rote Kugel aus, dehnt sich auf weitere Leinwände an den Seiten. Sie wird größer, wechselt zu Lila – dazu sind rasante Schläge zu hören, als rassele ein Kochlöffel in einem Topf.

Anzeige

Dann legen Kerstin Schweers als divenhafte Dame und Jörg Thieme als eleganter Herr ihre Rollen an: Sie werden eingekleidet, betreten das Rundpodest und quetschen sich durch eine schmale Tür. Begleitet werden sie von einzelnen Posaunentönen, gespielt von Stefano Perini. Die Dame und der Herr sind die eine Seite, die Masse Mensch die andere Seite in „Violett“, das ursprünglich „Der violette Vorhang“ hieß: Mit ihm wird der Herr tanzen.

Von 1911 bis 1914, dem Jahr, in dem der 1. Weltkrieg begann, hat Kandinsky an seiner Komposition gearbeitet, zu einer Aufführung kam es nie. Er sah sie als Teil seiner „Erneuerung des Theaters“, sie sollte musikalischen Klang, Farbenklang und Bewegung zusammenführen. Auch für die Farben hatte er klare Vorstellungen: Gelb als irdische, Blau als himmlische Farbe, Hellrot für Triumph, Orange für den Menschen. Und er stellte die Fragen aller Fragen: „Ob Sie dieses Werk entführt hat in eine Ihnen bisher unbekannte Welt. Wenn ja, was wollen Sie mehr?“

Die Antwort, die Arila Siegert und ihr Team geben, ist eindrucksvoll. Das Paar streitet, singt, spricht, zittert. Eine Kuckucksuhr tönt, tickt, die Masse marschiert, „die Augen rechts“, erobert – in bunten Kitteln und antiken Kriegerkostümen – die Vorbühne. Der Chor schlurft mühsam gegen die Bühnendrehung an, drei Tanzpaare drehen, heben sich, die Frauen laufen in der Luft weiter.

Arila Siegert, früher „beratende Expertin“ an der Bühne am Bauhaus, schüttelt ein Kaleidoskop des Lebens, das damals wie heute gleichermaßen meint. Als Kriegsahnung klagt ein Krückenmann sein Los, steht als schwarzverhülltes Menetekel auf der Vorbühne, schließt zwei Kinder in seine tödliche Umarmung. Aber da schlendert auch ein junger Mann, auf sein Smartphone starrend, vorbei. Ein flinker Pinsel malt eine Wolf-Stier-Kuh auf den Vorhang, die Figur changiert von Rot zu Gelb zu Türkis. Der Herr wandelt sich wie die Farben, die er benennt, endet in „Straßenkotolive“. Und die Musik dazu rattert, pfeift, klingt, schwebt, braust, droht, poltert im Galopp. Leider ist dem üppigen Programmheft nicht zu entnehmen, welchen Anteil Ali N. Askin (Komposition und Sounddesign) an den Klängen dieses Abends hat, dafür hat das Heft einen Extraumschlag mit Kandinskyformen und -farben.

Ein 90 Minuten langer, turbulenter Wirbel, in dem Chordirektor Sebastian Kennerknecht die vielen musikalischen Fäden souverän in den Händen hält. Choristen singen vom Schnürboden herab, ein Bläserruf grüßt ein „Gesundes Leben!“, die Violine (Katharina Brandt) stimmt „Ach, du lieber Augustin“ an, der Herr hört dem Cellospiel von Gerald Manske zu. Nach vielen möglichen Schlüssen knarrt die Drehbühne im Dunkeln. Dieser wunderbare Abend ist vieles, nur eines nicht: „die grüne Langeweile“.