Foto: „Ein Mann seiner Klasse" © Pfalztheater Kaiserslautern
Text:Björn Hayer, am 30. Juni 2023
Nach der erfolgreichen Inszenierung von Chris Barons „Ein Mann seiner Klasse“ am Schauspiel Hannover ist es nun in der Heimatstadt der Autors zu sehen. Und auch in Kaiserslautern erweist sich der Roman als Vorlage für eine grandiose Inszenierung.
Man könnte diesen Text mit Begriffen wie „grandios“, „fabelhaft“ oder „phänomenal“ beginnen und hinter jeden ein Ausrufezeichen setzen. Denn all diese Lobesbekundungen treffen zweifelsfrei auf die Inszenierung von Christian Barons Prosadebüt „Ein Mann seiner Klasse“ am Pfalztheater Kaiserslautern zu. Aber dieser Text nimmt dann doch einen anderen Anfang, und zwar ausnahmsweise mit dem „Ich“. Mit dem Autor, der hier gerührt schreibt, weil er so manches aus seiner eigenen Kindheit auf der Bühne vergegenwärtigt sieht: Die Bedeutung des Fernsehers, die Scham der Armut, die unzähligen Gespräche mit „Thekenleichen“ in irgendwelchen Spelunken, wo sich Alkoholismus und Galgenhumor die Klinke in die Hand geben, überhaupt: dieser enge Horizont eines höchst prekären Existenz. Doch das Los des Romanciers weist im Laufe des Abends noch weitaus mehr Drastik auf. Denn Hoffnungslosigkeit und materielles wie geistiges Elend sind das eine, das andere ist die Gewalt, die Tobsucht des Vaters, die Wut, die keinen anderen Prellbock als die schwangere Mutter und die eigenen Kinder kennt. So lebt niemand lang. Beide Eltern sterben früh, sie in den frühen Dreißigern, er an Multiorganversagen in seinen Vierzigern.
In einer prekären Familienwelt
All dieser Schmerz, all diese Szenen eines Aufwachsens als Kampf gegen Windmühlen, dessen kleines Glück im Nintendospiel und Disneyverfilmungen bestand, laufen an diesem Abend im kulturellen Herzen von Barons Geburtsstadt ähnlich einem Diorama vor den Zuschauern ab. Aufgeteilt auf fünf leidenschaftlich spielende Sprecher (Jelena Kunz, Ilona Christina Schulz, Rainer Furch, Martin Schultz-Coulon), geben sie den vielen Stimmen im Erzähler Raum. Mal packt ihn die Angst, mal die Wut und Trauer und manchmal erlebt er sogar kleine Momente der Schönheit, wenn etwa sein ansonsten unflätiger Vater ihn lehrt, nie den Stolz zu verlieren.
Letzterer wurde nämlich stets hochgehalten. Man wollte nie zu den Arbeitslosen gehören oder gar mit DEN Ausländern auf einer Stufe stehen, die ja gemäß der Analyse des Familienoberhaupts hier einen Mercedes bekämen, während die Deutschen den Bus nehmen müssten. Allein diese Szene erweist sich als paradigmatisch für den genauen und feinen Blick des Regisseurs Jan Langenheim. Mit Bildzeitung an einem Gartentisch schaufelt der väterliche Haudegen einen Eintopf mit Maggi-Würze in sich hinein und schluckt das ‚Park‘-Bier wie Wasser, derweil eine andere Darstellerin im Hintergrund verächtlich die Schluck- und Schmatzgeräusche nachahmt. Solche Einfälle sorgen für die Humorspitzen, reihen sich ein in Aufnahmen einer zumindest für Augenblicke heiteren Jugend: wie etwa den Karneval, mit vielen Kostümierungen, zelebriert auf einer Miniaturbühne mit Vorhang. Oder auch Christians erster Theaterbesuch: Offenbachs Operette „Orpheus und Eurydike“, die nochmals mit Gesang und Jupiteroutfit (Günther Fingerle) rekonstruiert wird. Oder all die Tänze zum 90er-Pop. Damit Melancholie und die schweren Krisen uns derart bewegen, wie sie es den Abend über tun, braucht es exakt jene Momente der Erhebung und Ablenkung.
Theater als Raum für alle Klassen
Wohltemperiert könnte man dieses Arrangement nennen, in den dem Autor vielleicht heute noch nicht ganz behaglichen akademischen Kreisen. Muteten sie ihm einst fremd an, so werden hingegen in der Uraufführung die Menschen jedweder Herkunft vereint. Alle kommen in einem Raum zusammen. Man erhält Tee und Salzstangen, kann an der Konsole spielen oder Gitarrenmusik zuhören. Erst mit dem Einstieg in den diese dreidimensionale Soziologie der Armut hantieren die Akteurinnen und Akteure mit einem für die Aufführung wesentlichen Requisit, nämlich weiß gestrichenen Holzzäunen. Man verschiebt sie, teilt das Parkett in Zonen. Sie fungieren als Sinnbilder für die Enge des kleinbürgerlichen Daseins, dessen Konturen klar umrissen sind – vor allem durch eine unbarmherzige Gesellschaft. Als Barons Vater stirbt, spricht diesen sein ebenso gepeinigter Bruder frei. Er selbst ist dazu noch nicht in der Lage und wird es bereuen, eben weil sich der Vater als der titelgebende Mann seiner Klasse entpuppte, die nichts anderes als ein Korsett darstellte. Und noch einmal kommt jetzt das Ich. Es flüchtet sich nicht in Feuilletonetiketten, um diesen Abend zu preisen. Ich sage: Text und Inszenierung sind voller Wahrheit, bewegend bis ins Mark!