Foto: Erik Fenton (Siegfried), Jaco Venter (Alberich), Matthias Wohlbrecht (Mime), Uliana Alexyuk (Waldvogel), Statisterie © Falk von Traubenberg
Text:Roberto Becker, am 11. Juni 2017
Thorleifur Örn Arnarsson inszeniert Wagners „Siegfried“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe.
Viele Wege führen zu einer überzeugenden Wagner-Aufführung. Man braucht dazu vor allem ein erstklassiges Orchester, das mit sich und seinem Dirigenten im Reinen ist. Das ist bei der Badischen Staatskapelle und ihrem GMD Justin Brown ganz offensichtlich der Fall. Die haben schon ziemlich sicher jede „Rheingold“ und „Walküre“-Klippe umschifft und volle Fahrt aufgenommen. „Siegfried“ fügt sich da, nach klitzekleinen Irritationen am Anfang, geradezu beglückend ein. Mit betörenden Piani und allerlei Naturimaginationen ebenso wie beim ausführlichen Parlieren zwischen Mime und seinem Ziehsohn, dem Wanderer und dem verzweifelt an seine Grenzen gekommenen Schmied. Aber auch bei den Streitereien zwischen Wotan und seiner alten Liebe Erda. Oder während der immer noch offenen (Schach-) Partie mit dem Erzfeind Alberich. Und natürlich am Ende, wenn Siegfried endlich bei Brünnhilde angekommen ist und die beiden – nach kleinen Orientierungsschwächen, ob das nun die Frau Mama oder doch die angekündigte Geliebte ist – leidenschaftlich und ausführlich für einander entflammen.
Was hier aus dem Graben kommt, funktioniert auch deshalb, weil auf der Bühne eine veritable Ensembleleistung geboten wird. Grandios die für alle drei Brünnhilden in Karlsruhe vorgesehene Heidi Melton. Auch Rollendebütant Erik Fenton ist ein imponierend konditionsstark schmetternder, mit der Zeit auch klar artikulierender Siegfried. Alle übrigen Partien besetzt man in Karlsruhe problemlos aus dem eigenen Haus: Renatus Meszar ist stimmlich und darstellerisch längst zu einem erstklassigen Wotan-Darsteller gereift, Matthias Wohlbrecht ist ein Charakter-Mime von Format. Das gilt analog für Katherine Tier (Erda), Avanadil Kaspeli (Fafner), Jaco Venter (Alberich) und Uliana Alexyuk (Waldvogel). Die Bedingung der Opernpraxis, dass ein mittleres Haus den „Ring“ nur manchen sollte, wenn es dazu vokal und musikalisch in der Lage ist, erfüllt Karlsruhe überzeugend. Sozusagen mit links bzw. „nur“ zwei nahtlos ins Ensemble passenden Gästen. So weit, so (sehr) gut.
Bei den Wegen, die zu einer überzeugenden „Ring“-Deutung führen, gibt es (seit dem Stuttgarter Coup) zwei prinzipielle Varianten. Entweder ein sendungsbewusster und handwerklich perfekter Regisseur versucht eine Idee von Weltendeutung umzusetzen (wie etwa Frank Castorf mit seiner Suche nach der verlorenen Utopie im Großen oder etwa André Bücker mit seinem Dessauer Bauhaus-Ring im nicht ganz so Großen). Oder man nutzt die Möglichkeiten, die das Jeder-macht-seins bietet, indem man vier verschiedenen Regisseuren jeweils einen Teil überlässt (wie es im kommenden Jahr auch in Chemnitz mit vier Regisseurinnen auf der Agenda steht). Diese pars-pro-toto Methode kann man wörtlich nehmen. David Herrmann hat im Karlsruher „Rheingold“ gleich den ganzen Ring erzählt. Es geht auch assoziativ. Mit beliebigen Anspielungen und Links auf die Welt- und Rezeptionsgeschichte oder/und die Gegenwart.
Wenn man jetzt die Wunderkammer mit „Wow!“ – Effekt, die Vytautas Narbutas auf die Bühne gesetzt, vollgestopft und mit ein paar gemütlichen Ecken versehen hat, genauer betrachtet, findet man lauter Requisiten, die sich mühelos in allen möglichen anderen Wagneropern nachnutzen lassen. Selbst die Büste des Komponisten auf dem verstimmten Klavier ist ja keine brandneue Erfindung. Wenn Siegfried mal nicht auf einer umständlich geschnitzten Flöte, sondern am Klavier seine falschen Töne als scheiternder Vogel-Versteher produziert, dann ist das durchaus witzig. Zwar nicht so, dass man sich gleich lauthals vor Lachen ausschütten müsste, wie es einige dem Haus enthusiastisch verbundene offenbare Ringneulinge taten, aber immerhin. Auch wenn der Hornist wie ein aufgepeppter Papageno mit seinem Instrument aus der Standuhr kommt, ist das einer von den netten, freilich eher klein formatierten Einfällen, mit denen Thorleifur Örn Arnarsson aufwartet. Den von oben einschwebenden Waldvogel mit zwei Begleiterinnen samt Trapez-Kunststückchen zu versehen, ist eher Illustration. Ebenso die beiden Nornen, die Erda bei ihrer Begegnung mit Wotan sekundieren. Wobei man sich schon fragt, in welcher Ecke des Raums wohl die dritte verlorengegangen ist. Da müsste man am besten in der kleinen Überwachungszentrale rechts neben dem Bühnenportal nachfragen. Von da aus behält Wotan das gesamte Geschehen auf Monitoren im Auge. Eine sinnvolle Idee, die aber ihr Potenzial zum Kommentar unserer digitalen und zunehmenden überwachten Gegenwart zu werden, nicht mal im Ansatz ausschöpft. Dass ihm zwei Helfer zur Seite stehen, die er bei Bedarf als spionierende Raben auf die Galerie vor der lädierten (Walhall-) Kuppel über diesem Salon der Geschichte schickt, passt eben auch in die als Märchen erzählte Geschichte.
Bei Siegfried-Klassikern wie dem Umgang mit Raspel, Feuer, Blasebalg, Hammer und Amboss tritt die Regie gar nicht erst zum Wettbewerb mit den diversen Lösungsvorschlägen der Rezeptionsgeschichte an. Siegfried steht wie angewurzelt hinter einer verrosteten Tonne und hantiert wie beim sommerlichen Grillen mit einem Blasebalg und mit den Bruchstücken des Schwertes, die er aus dem angeblichen Feuer zieht – das ist schon mehr als mager. Und das wird nicht besser, wenn Siegfried am Ende, nachdem er die Rückwand der Bühne wie ein Tor geöffnet hat und im Hintergrund Naturbilder und andere Videos den Kitsch streifen, die gesamte Entdeckung Brünnhildes nur noch wie in Trance am Tisch sitzend halluziniert. Das ist mehr geschummelt als tief gedacht.
Da es ohne eine leibhaftige Brünnhilde und ihr „Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!“ aber nunmal nicht geht, kommt die einfach aus der Versenkung langsam nach oben gefahren. Zum Glück hält sich Heidi Melton an die Noten und den Text und fängt nicht (wie man es bei ihrer Kostümtracht befürchten musste) an zu jodeln. Dass Siegfried während seiner Begegnung mit ihr gleichsam im Handumdrehen erwachsen wird, ist die Schlusspointe einer Personenregie, der leider der vorbereitende Atem fehlt. Sie hat bis dahin sogar Mime mehr oder weniger ausgebremst. Da braucht es dann schon einen rollenerfahrenen Wotan, um dem etwas eigenes entgegenzusetzen. Insgesamt gehen bei diesem „Siegfried“ Wagners Musik, die Protagonisten und das opulente Bühnenbild deutlich vor der Regie, die es im Detail nicht immer ausfüllt und vor dem ambitionierten Rückgriff auf die Welt von heute zurückschreckt, durchs Ziel. Tobias Kratzer hat da für die ausstehende „Götterdämmerung“ die besten Chancen!
Der Beifall für die Protagonisten war ungeteilt, beim Regieteam gab es auch etliche Buhs.