Foto: Proben die Schlacht, knebeln ihre Männer: Die Amazonen im Ulmer "Romeo und Julia" Ballett. © Hermann Posch
Text:Ulrike Lehmann, am 6. März 2012
Auch Ballettklassiker kann man regietheatermäßig gegen den Strich bürsten – und das naturgemäß leichter als Musiktheater, weil hier kein Libretto wörtlich uminterpretiert werden muss. Wer Prokofjews „Romeo und Julia“ also in einen zeitlosen Stammeskrieg verpflanzt, muss vor allem für eine stimmige musikalische Dramaturgie sorgen. Im Übrigen eignet sich die tragischste aller tragischen Liebesgeschichten prächtig für eine zeit- und ortlose Erzählung, wie nun der Ulmer Ballettdirektor Roberto Scafati gezeigt hat.
Seine Version von „Romeo und Julia“ erzählt keine vererbte Familienfehde im Renaissance-Verona sondern einen Krieg der Geschlechter im Urzustand – und zwar mit klarer weiblicher Dominanz: Die Amazonen herrschen über eine Gruppe verweichlichter, infantiler Burschen, die ihnen einzig zur Fortpflanzung dienen. Julia (Yuka Kawazu) ist eine zierliche Nachwuchs-Amazone, der das kämpfen (noch?) nicht liegt; Romeo (Yuhao Guo) ein naiver Wildfang, der wie seine Kumpels den Fangnetzen und Gewaltspielen der Frauen ausgeliefert ist.
In einem dieser Rituale werden die Männer mit verbundenen Augen an Pfähle geknebelt und von den triebgesteuerten Amazonen angesprungen, wird ihnen der weibliche Schoß ins Gesicht gegraben, in rhythmischem Schwung und mit leichten Schlägen. Anführerin der hübschen Horde ist Oberamazone Tybalta, denn Shakespeares Tybalt kann als Erzfeind Romeos in dieser Deutung nur eine Frau sein. Simone Damberg Würtz gibt sie betont breitschultrig, kraftstrotzend maskulin im Gang und kampfeslustig ganz wie der Tybalt im Original. Dass ausgerechnet die mädchenhafte Julia zur Gefahr ihrer Macht wird, passt gut in den geschlechterfokussierenden Grundkonflikt. Denn natürlich greift Julia – längst verliebt in ihren Romeo – irgendwann in die raubtierhaften Kämpfe und Speerübungen der Amazonen ein, schützt ihren Liebsten und lädt damit nicht nur alle Wut Tybaltas auf sich, sondern sät auch den Keim der Liebe ins Amazonenreich: Die heimlich kuschelnden Paare mehren sich…
Doch ehe das Drama seinen Lauf nimmt, spart Roberto Scafati weder mit illustren Szenen noch mit großen Emotionen: Julias Erzieherinnen (Maiko Arai, Juliane Nawo – ja, hier sind es zwei Ammen) hoppeln als lila Hausdamen umher, und verdrücken sich dezent, um die zwei Liebenden bei einem herzzerreißenden Pas de Deux allein zu lassen. Im strömenden Regen rutschen und schlittern sie umher, süßlich spülen die Klänge des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm unter Nils Schweckendiek auf die Bühne, und es wird einem um ein Haar zu viel der Romantik in all dem platschenden Wasser.
Als Mercutio (James Muller) im dritten Akt leichtsinnig aufbegehrt gegen die weibliche Übermacht, tötet ihn Tybalta im Handgemenge. Die Rache nimmt ihren Lauf, der Trank wird Julia von einer weißmaskierten Schamanin gereicht, und ihr vermeintlicher Todesschlaf wird Romeo innerlich zerreißen, wenn er im Finale den leblosen Oberkörper seiner Julia im Takt wippen lässt, sie umherschleift, wieder und wieder an sich reißt, bis beide von Tybalta erstochen werden. Großer Jubel zur Premiere für einen Ballettabend mit der allen stilistischen Ansprüchen gewachsenen Ulmer Ballettkompanie.